Auf den ersten Blick sah es wie ein richtiger Coup aus, als es im Sommer 1997 einem Team des US-Senders CNN gelang, Thomas Pynchon in Manhattan aufzuspüren und zu filmen. Der weltberühmte Schriftsteller war über 40 Jahre zuvor demonstrativ aus der Öffentlichkeit verschwunden. Pynchon schrieb weiter große Bücher, gab aber weder Interviews noch Lesungen, hatte seit über 40 Jahren für kein Foto posiert. Ein literarisches Rätsel war gelöst, ein Katz und- Maus-Mythos entzaubert. Nun ja, fast. Wenige Tage später rief Pynchon beim Sender an, schäumend vor Wut. Nach einigem Hin und Her musste die Redaktion sich fügen. Die Straßenszene, die ihn zeigt, konnte zwar ausgestrahlt werden. Allerdings durfte sie keinen Hinweis darauf enthalten, bei welchem der vielen Passanten es sich um Pynchon handelte. Über die Auslösung dieses Enigmas herrscht bis heute Uneinigkeit. „Wo bist du, João Gilberto?“, der Dokumentarfilm von Georges Gachot, den ARTE im September zeigt, beschäftigt sich mit ähnlichen Fragestellungen. Der Suche nach einem Genie, das nicht gefunden werden will. Dem Dilemma, wie weit man als Hobbydetektiv dabei gehen darf. Und dem Rätsel, was Menschen zu finden hoffen, wenn sie sich auf eine solche Mission begeben.
Wer war João Gilberto? Einer der genialsten, sturköpfigsten und wichtigsten Musiker Brasiliens. Als er 2019 starb, mit 88, erinnerten weltweit die Nachrufe daran, wie Gilberto in den späten 1950ern die Bossa Nova miterfand, diese aus Samba, Jazz und Liebesjammerlied fusionierte Musik, die sich sanft und leise bis in die größten Konzerthallen und die Soundtracks von „Herr Rossi sucht das Glück“ (1976) oder Wes Andersons „Die Tiefseetaucher“ (2005) schunkelte. Daran, wie er 1963 mit Stan Getz in New York das Album „Getz/Gilberto“ aufnahm, das den berühmten Song „The Girl from Ipanema“ enthielt und das vier Grammy-Preise gewann. Daran, dass Gilberto noch 2008 in Japan auftrat, in ausverkauften Häusern. Ob er in dieser Zeit Geld brauchte? Oh ja, ganz bestimmt. Jahrzehntelang hatte er sich da bereits in Rio zurückgezogen, war vereinsamt und zugleich verschuldet.
„O Mito“ nennt man ihn in Brasilien, „die Legende“, und das eben auch, weil er sich selbst zum Phantom gemacht hatte. Abgesehen von den raren Bühnenauftritten verlor sich João Gilbertos öffentliche Spur immer mehr. Ähnlich wie bei Pynchon, doch mit einem erkennungsdienstlich relevanten Unterschied: Gilberto brach auch privat einen Kontakt nach dem anderen ab. Der König der Bossa Nova wurde zum Einsiedler, mitten in Rio. Hier lag die Aufgabe für Georges Gachot. Der in Frankreich lebende Schweizer hatte mehrere Filme über die Musik Brasiliens gedreht, zog 2016 ein weiteres Mal los, um das metaphorische Sturmauge der brasilianischen Música Popular zu finden: den geheimen Aufenthaltsort Gilbertos. Als Reiseführer klemmte er sich den Reportageband „Hobalala“ (2011) unter den Arm, in dem der deutsche Journalist Marc Fischer über seine eigene Suche nach Gilberto schrieb. Fischer hatte ihn nicht gefunden, starb selbst noch vor Erscheinen des Buches. Die Ausgangslage für den Film „Wo bist du, João Gilberto?“ war verworren, voller Spannung und Wehmut. Was hinter der Kunst steckt Es gibt viele Gründe, aus denen Künstlerinnen und Künstler sich selbst verschwinden lassen. Der US-Musiker Rodriguez, der 2012 im Film „Searching for Sugar Man“ auftauchte, hatte schlicht seine Karriere beendet, Pink-Floyd-Sänger Syd Barrett wurde durch LSD-Konsum zum psychischen Pflegefall. Schauspielerin Greta Garbo, die Schriftsteller Patrick Süskind und Walter Moers wollten Presse und Kulturbetrieb loswerden. So ähnlich lag der Fall wohl bei João Gilberto, rechnet man eine Prise Menschenhass und Altersschrulligkeit dazu.
Dass derart widerwillige Prominente schon immer Ausnahmen waren, ist klar. Wir sollten ihnen umso dankbarer sein. Denn so unterhaltsam die Homestorys und Instagram-Bilder, Backstage-Filme und Late-Night-Interviews auch sind – sie bleiben fadenscheinige Antworten auf die Frage, was hinter der Kunst steckt, wiegen uns in der extrem fragwürdigen Sicherheit, wir könnten die Werke besser begreifen, wenn wir die privaten, spontanen Seiten der Kreativen erleben. Im Kern hat Gilberto Millionen von Bossa-Nova- Hörern einen Gefallen getan, als er die Tür hinter sich schloss: Er ließ die Musik, die er prägte, für sich sprechen. Die sehnsüchtigen, präzise swingenden Songs wie „Chega de Saudade“ oder „Desafinado“. Sie sagen alles besser, als er es je gekonnt hätte. Ob Georges Gachot den legendären Gilberto gefunden hat? Man muss es sich unbedingt anschauen. „Der Weg ist das Ziel“, soll Konfuzius gesagt haben. Und auch er gab in 72 Jahren Philosophenkarriere kein einziges Interview.