Die Wege von Simon & Garfunkel haben sich, von gelegentlichen Wiedervereinigungen abgesehen, 1970 getrennt, gleich nach der Veröffentlichung ihres Bestseller-Albums „Bridge over Troubled Water“. Das war acht Jahre vor meiner Geburt. Als ich also meine Lieblingsmusik entdeckte, gab es das Gesangsduo bereits nicht mehr. Dennoch war es für mich existent, wie eine versunkene Stadt, die freigelegt wird, fremdartig und wunderschön. Ich behielt meinen Fund für mich, auch weil er nichts war, womit ich auf dem Schulhof hätte auftrumpfen können. Meine Freunde hörten Guns N’ Roses. Simon & Garfunkel liefen schon damals auf dem Oldie-Sender, sie galten als kitschig und gestrig. Doch das Alte wird nicht alt, es wird nur alt das Neue. Ich glaube nicht, dass meine Freunde immer noch Guns N’ Roses hören. Ich höre immer noch Simon & Garfunkel.
Ich besitze all ihre Alben, samt zahllosen Bootlegs. Mein größter Schatz aber ist ein anderer: Mein Vater hat mir ein kleines Archiv von Musikkassetten mit Liedern vermacht, die er in den 1980er Jahren aus dem Radio aufgenommen hatte. In seiner akkuraten Handschrift steht „Gute Hits“ und „Sehr gute Hits“ auf den Etiketten. Eines der Bänder beginnt mit „Albatros“, dem elegischen Instrumental von Fleetwood Mac. Kurz vor dem Ende wird das Stück jäh unterbrochen von einem Wortfetzen, der sogleich in einem kurzen Würgegeräusch untergeht. Genau hier hat mein Vater vor einer halben Ewigkeit die Pausetaste gedrückt, um die Aufnahme zu unterbrechen.
„Where have you gone, Joe DiMaggio?“
Ich erinnere mich an den Moment, als er sich ärgerte, weil ihm der eilfertige Moderator in das Ende des Lieds „reinlaberte“, wie er es nannte. Und ich erinnere mich, wie er vom Küchentisch zum Rekorder hechtete, wenn ein Stück begann, das er seiner Sammlung unbedingt hinzufügen wollte. Ich erinnere mich daran, dass Musik damals keine ständig verfügbare Ware war. Man musste sie jagen wie ein seltenes Tier, geduldig und zugleich blitzschnell sein. Mein Vater war beides. Ich erinnere mich an ihn als noch recht jungen Mann, der so stark war, dass er mich bis in den Himmel emporwerfen konnte.
Die alte Kassette bringt all das wieder hervor, auch hier: Es erklingt eine hart gezupfte, spanisch anmutende Gitarrenmelodie, der unverkennbare Anfang von „Mrs. Robinson“, einem jener sehr guten Hits von Simon & Garfunkel. „Where have you gone, Joe DiMaggio? A nation turns its lonely eyes to you“, singen sie im letzten Refrain. Zu Deutsch: Wo bist du hin, Joe DiMaggio? Eine Nation wendet dir ihre einsamen Augen zu.
Der ehemalige Baseballstar DiMaggio, zwischen 1936 und 1951 neun Mal Gewinner der World Series mit den New York Yankees und für 274 turbulente Tage Gatte Marilyn Monroes, war über diese Frage erbost: Natürlich sei er noch da, sagte er, er mache Werbung für Kaffeeautomaten und sei Sprecher einer Bank, ein immer noch viel beschäftigter Mann also. Er soll sogar erwogen haben, Paul Simon, den Urheber des Textes, zu verklagen. „I haven’t gone anywhere“, ließ er wissen. Er sei nirgendwo hingegangen. Das mochte zwar stimmen, aus seiner Perspektive. Und doch war die Frage berechtigt: Wo um alles in der Welt ist es hin, das Idol der Kindheit? Wo sind sie hin, die Tage, da der kleine Paul Simon im New Yorker Stadtteil Queens rücklings auf dem Bett lag, über ihm das Poster des Athleten, der seine Träume verkörperte? Wo ist sie hin, die Kindheit selbst? Auch die meines Vaters und nun, über 30 Jahre später, meine eigene? Die Zeit hat sie mitgenommen, als sie in See gestochen ist zu den Gestaden der Vergangenheit.
Simon & Garfunkel galten als Heulsusen und wurden von vermeintlich härter gesottenen Kollegen lächerlich gemacht, dabei stellten sie sich, anders als Rocker und Punks, nicht bloß der alltäglichen Beschissenheit der Dinge. Sie beklagten einen viel größeren Schmerz: dass nichts von Dauer ist, so sehr wir uns auch daran klammern mögen. Ihre Musik ist der Klang der Wehmut. Sie sind den Dichtern näher – Lew Tolstoi, Italo Svevo oder Marcel Proust etwa – als manch anderem Musiker ihrer Epoche.
Als Simon später einmal in einem italienischen Restaurant zufällig DiMaggio begegnete, erklärte er ihm, dass er auf die Lücke habe hinweisen wollen, die er, DiMaggio, hinterlassen habe. Das sei nicht seine Schuld, sondern die der Zeit, die die ärgerliche Angewohnheit habe, zu vergehen. Der Baseballstar verstand und bedankte sich.
Leider trennten sich Simon & Garfunkel auf dem Zenit ihres Schaffens aufgrund unterschiedlicher künstlerischer Konzepte und hinterließen ebenfalls eine Lücke. Doch zum Glück füllten sie sie von Zeit zu Zeit selbst, wie 1981 beim Konzert im Central Park, dessen Aufzeichnung ARTE im Juli zeigt. Die Wehmut wäre sonst auch kaum auszuhalten.
Es ist tatsächlich ziemlich schwer, etwas Simples und Gutes zugleich zu machen