Mauern aus raketensicherem Stahlbeton, draußen Stacheldraht und Panzer. Im Kampf gegen die Mafia, das sollte die Welt sehen, überlässt der italienische Staat nichts dem Zufall. Ein komplettes Gerichtsgebäude wurde in Palermo eigens für diesen Prozess neben dem historischen Ucciardone-Gefängnis im Eiltempo aus dem Boden gestampft. Im Inneren des sogenannten Aula-Bunkers: 30 Käfige. 475 Männer standen unter Anklage, von denen am Ende 344 zu insgesamt 2.665 Jahren Haft verurteilt wurden. Das erste Mammutverfahren gegen die sizilianische Mafia-Organisation Cosa Nostra, bekannt geworden als Maxi-Prozess, war spektakulär und markierte 1986 eine Zäsur im Kampf gegen die organisierte Kriminalität.
Möglich wurde der juristische Vorstoß durch einen Riss in der bis dato ehernen Schweigemauer der Mafia. Verursacht hatte den wenige Jahre zuvor eine ebenso schillernde wie undurchsichtige Figur, der Mafia-Boss Tommaso Buscetta. Im Krieg der Clans untereinander hatte er zwei Söhne und etliche Vertraute verloren. Nach seiner Verhaftung in Brasilien wurde Buscetta zum pentito. So nennt die Mafia einen der ihren, der mit der omertà bricht, der für alle Mitglieder bis zum Tode geltenden Schweigepflicht.
Für gewöhnlich kommt ein solcher Verrat einem Todesurteil gleich. Buscetta aber überlebte im Schutz der Justiz, und seine Aussage trat eine Lawine los. Hunderte, oft hochrangige Mitglieder der sogenannten ehrenwerten Gesellschaft landeten hinter Gittern. Die Ermittler stießen nach eigenem Bekunden erstmals „ins Herz der Mafia“ vor. Befördert auch dadurch, dass nach Jahrzehnten blutiger Mafia-Kriege allmählich ein Bewusstseinswandel in der Bevölkerung und ein Erstarken der Antimafia-Bewegung eingesetzt hatte. Die engen Verflechtungen der Mafia mit Staat, Gesellschaft und Kirche hatten der sizilianischen Cosa Nostra und verwandten Organisationen anderswo lange Zeit Unantastbarkeit beschert. Doch nicht nur Bestechung und Brutalität kennzeichneten die kriminelle Organisation, die sich seit dem 19. Jahrhundert in Süditalien ausbreitete. „Die Mafia war ein Fahrstuhl für den sozialen Aufstieg. Die Männer erfuhren Respekt, der für Sizilianer sehr wichtig ist“, beschreibt Staatsanwalt Giuseppe Ayala im ARTE-Dokumentarfilm „Corleone. Pate der Paten“ das zweifelhafte Erfolgsversprechen des tödlichen Gewerbes.
Nach dem Mord in die Kirche
Der zweiteilige Film vermittelt beklemmende Einblicke in das Selbstverständnis der Mafiosi. So berichten ehemalige Profikiller, unkenntlich gemacht durch Masken und Sonnenbrillen, wie sie nach ihren Mordtaten in die Kirche gingen, um sich Absolution zu holen.
Ein besonders skrupelloser Mafia-Aufsteiger war der Bauernsohn Salvatore Riina, unter dessen Führung die Familie aus der Kleinstadt Corleone ihren mit Leichen gepflasterten Weg an die Spitze der Cosa Nostra einschlug. Die von anderen Clans als i viddani, die Bauern, geschmähten Corleoneser sorgten dafür, dass ihr Heimatort bis heute gleichsam als Synonym für die italienische Mafia steht. Riina war ein Mann der vielen Spitznamen. Totò, die Abkürzung für Salvatore, und u curtu, der Kurze, wegen seiner geringen Körpergröße von 1,58 Metern, waren die harmlosesten. Vielsagender klangen da schon Bezeichnungen wie Capo di tutti capi, der Boss der Bosse, und erst recht la belva, die Bestie.
Beim Maxi-Prozess war Riina noch in Abwesenheit verurteilt worden. Erst im Januar 1993 griffen die Carabinieri zu, nachdem ein Tippgeber den Aufenthaltsort verraten hatte. Riina war zu diesem Zeitpunkt offiziell seit 20 Jahren auf der Flucht. Tatsächlich hatte er vermutlich die meiste Zeit über in Palermo gelebt – geschützt durch Beziehungen und Korruption. Ausschlaggebend für seine Verhaftung war am Ende wohl, dass er den Bogen mit den Befehlen für mehrere Attentate überspannt hatte. So ließ er im Mai 1992 den Chefankläger der Cosa-Nostra-Prozesse, den populären Mafia-Jäger Giovanni Falcone, samt Begleitern auf einer Autobahn in die Luft sprengen. Kurze Zeit später tötete eine Bombe in Palermo auch Falcones Mitstreiter und Freund Paolo Borsellino und seine Eskorte.
Als ihm schließlich der Prozess gemacht wurde, trat Riina, die Bestie, als Unschuldslamm auf. So beteuerte er etwa mit entwaffnendem Lächeln, er habe sich nie für Drogen interessiert: „Wenn ich das getan hätte, müsste meine Frau nicht auf vier Quadratmetern im Haus meiner Mutter wohnen.“ Der Mafia-Pate, verantwortlich für Hunderte angeordnete oder selbst verübte Morde, spielte den entrüsteten Ehrenmann: „Herr Präsident, bitte, so etwas, niemals! Ich bin nur ein Landwirt, ein Bauer, der ehrlich arbeitet.“ In gespielter Demut bezeichnete er sich selbst als „gläubigen und friedlichen Menschen“. Das Gefängnis verließ der Boss der Bosse nie mehr. Verurteilt zu 13-mal lebenslänglich, starb er Ende 2017 in Parma hinter Gittern. Reue hat er bis zuletzt nie gezeigt.