Dort, wo das Eis endet, wird die Arktis lebendig. Im Meer schwimmen unzählige Beluga- und Narwale. Mütter und Kälber lassen sich von den Wellen schaukeln, als würden sie tanzen. Doch die Tiere sind nicht allein – zwischen ihnen taucht Mario Cyr. Ausgerüstet mit einem kälteabweisenden Neoprenanzug und einem Schnorchel schiebt er eine sperrige Kamera vor sich her, folgt mit ihr den Bewegungen der Wale. Er ist so nah dran, dass man die Sonnenflecken auf ihrer Haut sehen kann. Angst hat der Taucher nicht vor den majestätischen Tieren – aber Respekt: „Ich bin Gast in ihrer Heimat“, sagt er.
Vierzig Mal hat Mario Cyr die Arktis bereist und dabei Unglaubliches erlebt: Er ist der erste Mensch, der mit Eisbären und Walrossen geschwommen ist. Seit fast 30 Jahren beobachtet er die Tier- und die Pflanzenwelt, das Meer und das Eis. Er ist Zeuge der massiven Veränderungen, die sich in der Arktis in den vergangenen Jahrzehnten abspielen. Im Sommer 2018 hat sich Mario Cyr deshalb mit der Höhlentaucherin Jill Heinerth zu einer Expedition aufgemacht, um filmisch festzuhalten, welche Auswirkungen der Klimawandel schon jetzt auf die Arktis hat.
Was die beiden sehen – oder besser: nicht sehen –, stimmt traurig. Auf den Walrus Islands, wo früher immer Walrossherden zu finden waren, zeigt sich kein einziges Tier. Erst weiter im Norden, in der Hudson Bay, finden die Taucher einzelne Walrosse auf den letzten Eisschollen. Seit Mario Cyrs erster Reise 1991 ist die Eisschmelze immer weiter ins Frühjahr vorgerückt. Und sie ist stärker geworden: Damals schmolz etwa die Hälfte des Eises im Sommer. „Inzwischen verschwinden etwa zwei Drittel“, sagt der Kanadier. Er meint damit nicht nur die Fläche, sondern auch die Dicke: Die Eisdecke maß in den 1990er Jahren im Durchschnitt 75 Zentimeter, sind es heute nur noch zwischen 20 und 30 Zentimeter.
Diese radikalen Veränderungen machen Mario Cyr betroffen: „Ich fühle mich so machtlos“, gesteht der Taucher. Er weiß: Seine Arbeit kann den Wandel nicht stoppen, nur dokumentieren. „Wir sind die Augen für jene, die nicht die Chance haben, das hier zu sehen.“ Alles hängt in der fragilen arktischen Natur vom Meereis ab. An ihm setzen sich Algen fest, von denen sich Mikroorganismen ernähren. Sie dienen als Futter für kleine Fische, die wiederum von großen Fischen und Robben gefressen werden. Wale, Walrosse und Eisbären stehen am Ende der Nahrungskette. Je früher das Eis schmilzt, desto früher verschwinden die Algen und damit die Basis des Ökosystems. So bedroht der Klimawandel die Existenz aller Tiere.
Ich fühle mich so machtlos, wenn ich die Umwälzungen hier sehe.
Noch können die Taucher viele Geschöpfe in ihrem natürlichen Lebensraum beobachten und filmen: Quallen, die einander umtanzen, ein Walrossweibchen, das unter Wasser sein Kalb mit den Flossen umschließt und in der Umarmung mit der Herde mitzieht, Belugawale, die sich auf den Rücken legen, als spielten sie mit der Kamera. „Es ist wie bei uns: Jedes Tier hat einen eigenen Charakter“, sagt Mario Cyr. Und eine eigene Stimme: Wale singen, Robben heulen und fiepen. Sogar das Eis macht Geräusche. Es knirscht und knackt – als lebe es. Aus dieser eigenen Welt bringen Mario Cyr und Jill Heinerth Bilder mit, die surreal schön und gleichzeitig schrecklich sind. Schön, weil sie zeigen, wie fein die Natur konzipiert ist. Schrecklich, weil sie klar machen, dass das fragile Gleichgewicht zu kippen droht.