Es gab eine Zeit, da hätte sich Familie Dibelius als glücklich bezeichnet. In sonnendurchfluteten Rückblenden sieht man, wie Vater und Sohn an einem Nordseestrand fröhlich einen Lenkdrachen steigen lassen, während die Mutter im Sand liegt und den Augenblick genießt. Lange her. Der Vater hat die Familie ohne ein Wort der Erklärung verlassen. Zurückgeblieben in einer tristen, wie unbehaust wirkenden Wohnung sind Kristin, die Mutter, und David, der Sohn, inzwischen Anfang 20. Auch sie bilden keine Gemeinschaft mehr, sondern leben isoliert nebeneinander her. David hat das Studium geschmissen, seit zwei Jahren hat er sich in seinem Zimmer eingeschlossen. Er verweigert jedes Gespräch und vegetiert am Computer vor sich hin. Nachts schleicht er raus, um ins Bad zu gehen oder sich eine Tiefkühlpizza in den Ofen zu schieben, die ihm seine Mutter stapelweise ins Gefrierfach legt.
Das ist die – denkbar verfahrene – Ausgangslage in „Goliath96“, dem Debütfilm des Regisseurs Marcus Richardt. Ihm ist damit eine sensible Studie über eine fragile Mutter-Sohn-Beziehung gelungen, die, obwohl als Kammerspiel inszeniert, doch viel über unsere heutige Gesellschaft erzählt: vom Druck, jederzeit funktionieren zu müssen, und von der virtuellen Parallelwelt, in die wesentliche Teile der zwischenmenschlichen Kommunikation ausgelagert werden.
Ohne mit küchenpsychologisch simplen Erklärungen aufzuwarten, konzentriert sich „Goliath96“ in ruhigen Einstellungen zunächst auf das Leben der Mutter Kristin, gespielt von Katja Riemann. Obwohl ihr Job gekündigt wurde, geht die Bankangestellte bis zum letzten Tag elegant zurechtgemacht ins Büro und anschließend ins Fitnessstudio. Ein funktionierender Alltag, so scheint es zumindest. Denn in Wirklichkeit hat sich Kristin längst genauso von der Welt zurückgezogen wie ihr Sohn. Der Unterschied ist nur, dass sie die Fassade eisern aufrechterhält. Allen, die nachfragen, erzählt sie, ihr Sohn studiere in den USA. Nicht einmal ihre Arbeitskollegin, gespielt von Jasmin Tabatabai, kommt noch an sie heran.
Einsamkeit und Verzweiflung zeigen sich nur dann im Gesicht von Kristin, wenn sie abends allein im Wohnzimmer sitzt oder still an der Zimmertür auf ein Lebenszeichen ihres Sohnes horcht. Der Part ist eine grandiose Solo-Performance für Katja Riemann, die mit dieser Rolle einmal mehr zeigt, dass sie neben dem Komödiantischen auch das tragische, tiefgründige Fach meisterhaft beherrscht. Dabei legt sie ihre Figuren nie eindimensional an. Sicher, ihre Kristin strauchelt beinahe unter der Bürde ihrer Probleme, aber sie lässt das Publikum fein dosiert spüren, dass sich hinter den Sorgenfalten ein warmherziger, lebenslustiger Mensch verbirgt. Wenn Katja Riemann als Kristin lacht, geht die Sonne auf.
Durch einen Zufall bringt Kristin in Erfahrung, dass ihr Sohn im Internet auf einem Drachenbauer-Forum aktiv ist. Sein Pseudonym: Goliath96. Sie meldet sich dort ebenfalls unter falschem Namen an und beginnt mit ihrem Sohn eine Fachsimpelei über Baupläne für Flugdrachen. Es entspinnt sich ein Online-Chat, der einem Flirt nicht unähnlich ist: Sie wartet nervös wie ein Teenager, dass David sich meldet. Dann lässt sie ihn schmoren. Er gibt sich zunächst ungerührt, doch irgendwann schlägt er ein Treffen in der realen Welt vor.
Das ist der Moment, in dem die Sache kippt und sich zu einer modernen Ödipus-Tragödie ausweitet: Der Sohn, der eine Frau begehrt, ohne zu wissen, dass es sich um seine Mutter handelt. Die Mutter, die alles geben würde, die Beziehung zu ihrem Sohn wieder aufleben zu lassen, forciert damit ungewollt die Triebe ihres Sprosses
Radikale Abschottung
Der Film öffnet sich nun für die Perspektive von David, gespielt von Nils Rovira-Muñoz. Wir sehen sein chaotisches Zimmer, seine strähnigen Haare, sein begrenztes Universum zwischen Bett und Bildschirm. Was treibt einen offenkundig intelligenten, sensiblen jungen Mann, der Student war und, so wird es angedeutet, früher Freunde und Freundinnen hatte, dazu, sich derart radikal von seiner Umwelt abzuschotten?
In Japan werden Jugendliche, die den Kontakt zur Außenwelt abbrechen und sich zu Hause in ihren Kinderzimmern verschanzen, anstatt ins Leben aufzubrechen, „Hikikomori“ genannt. Umfragen zufolge leben dort fast 1,2 Millionen junge Erwachsene in der selbst gewählten Isolation, die überwiegende Mehrheit der Hikikomori ist männlich. Bisher ist das Syndrom nicht als psychische Erkrankung anerkannt, doch zeigen aktuelle Studien aus Japan und Spanien, dass das Phänomen häufig von Krankheiten wie Depression begleitet wird. Ungeklärt ist, ob die Krankheit sie dazu verleitet, sich zurückzuziehen, oder ob umgekehrt die Isolation die Krankheit erst verursacht.
In „Goliath96“ bleibt in der Schwebe, was genau die Gründe für Davids Weltverweigerung sind. Wir erleben aber, wie zerbrechlich und anfällig für Missverständnisse die Beziehung zwischen Mutter und Sohn bisweilen ist – und wie anrührend und schön eine vorsichtige Annäherung sein kann. Und zwar in der realen Welt, nicht bloß virtuell.