Beim Termin in einer wunderbar altmodischen Pariser Brasserie im 14. Arrondissement wirkt Laetitia Casta überraschend unprätentiös. Sie trägt Jeans und Wollpulli, die Haare sind noch nass. Wie man eben aussieht, wenn man in der Nachbarschaft wohnt und nur schnell auf einen Kaffee rausgeht. Sie wählt einen Tisch direkt am Eingang und beantwortet in den folgenden 60 Minuten alle Fragen auf eine Art, die vergessen lässt, dass die 41-Jährige nicht nur ein international bekanntes Topmodel und eine erfolgreiche Schaupielerin ist, sondern auch eine nationale Ikone. Im Jahr 1999 wurde „La Casta“ ausgewählt, Modell für die „Marianne“ zu stehen, die Symbolfigur der französischen Republik. Sie war die Muse des legendären Modeschöpfers Yves Saint Laurent und arbeitete mit Filmemachern wie Yvan Attal. Auf ARTE ist sie nun in der Serie „Die Frau aus dem Meer“ in einer ungewöhnlichen Rolle zu sehen: als geheimnisvolle Unbekannte, die ein Fischerdorf in Angst und Schrecken versetzt.
Frau Casta, Meerjungfrauen gelten als schöne, aber harmlose Märchengestalten. Inwiefern unterscheidet sich die Nixe Théa, die Sie in der Serie „Die Frau aus dem Meer“ verkörpern, von diesem Klischee?
Laetitia Casta: Nun ja, ich hatte laut Drehbuch beinahe jeden Tag einen Menschen zu töten. In der Filmcrew gab es einige, die ein bisschen Angst vor mir hatten.
Klingt eher nach „Zombie Apokalypse“ als nach „Kleiner Meerjungfrau“.
Laetitia Casta: So weit würde ich nicht gehen. Théa ist zwar kein menschliches Wesen, aber sie hat weibliche Seiten, sie ist sinnlich und besitzt schöpferische Kraft. Der Unterschied zu Frauen besteht darin, dass sie keine Kinder gebären kann. Bei ihr führt das dazu, dass sie ihre Mission mit ungewöhnlicher Radikalität und Härte ausführt.
Was will sie erreichen?
Laetitia Casta: Théa rächt sich an den Menschen für die von ihnen begangenen Umweltsünden. Sie ist eng an die mythologische Figur der Lilith angelehnt, an die erste Frau, die Gott für Adam erschaffen hat. Weil sie um das Wesen der Dinge weiß und in unsere Seelen blicken kann, wird sie den Menschen gefährlich. Sie tötet für ein höheres Ziel, sie möchte unsere wunderschöne und mysteriöse Welt beschützen.
Ist sie eine Art Greta Thunberg der Meere?
Laetitia Casta: Unbedingt! Sie ist Aktivistin, Rebellin, Revolutionärin. Eine allegorische Figur. Was wir allzu leicht vergessen: Die Natur ist stärker als der Mensch.
Auffallend ist die Art und Weise, wie Sie sich als Théa bewegen: wie ein Tier.
Laetitia Casta: Meine größte Sorge war, dass Théa wie eine Karikatur wirken würde. Also musste ich einen Weg finden, sie glaubhaft zu verkörpern. Weil sie als Wasserwesen nicht viel spricht, wurde mir schnell klar, dass ich mit dem Körper arbeiten musste. Zusammen mit der Choreografin Blanca Li habe ich ein eigenes Bewegungsmuster entwickelt, eine Mischung aus Fisch und Tiger. Ich musste völlig anders atmen und gestikulieren als sonst. Jemand wie Théa nimmt zum Beispiel ein Glas nicht einfach so in die Hand, sie streicht erst sachte mit den Fingern drum herum.
Anders als ein Fisch brauchen Sie aber doch ab und zu Sauerstoff in der Lunge. Wie haben Sie es geschafft, während der vielen Unterwasser-szenen so lange die Luft anzuhalten?
Laetitia Casta: Ich mag körperlich herausfordernde Rollen und ich liebe es, die Elemente zu spüren. Das hat damit zu tun, dass ich auf Korsika aufgewachsen bin. Mein Vater ist Korse, und ich habe früher jeden Sommer dort verbracht. Aber es stimmt: Ohne hartes Training vorher hätte ich nicht durchgehalten. Wir mussten manchmal sechs Stunden am Stück im Wasser bleiben; war das Meer unruhig, hielten wir uns an Booten fest, um nicht von den Wellen überrollt zu werden. Das war enorm anstrengend.
Ich kenne beide Perspektiven, die des Opfers und die der Siegerin.
Sind Sie jemand, der auch in Drehpausen in seiner Rolle bleibt? So wie Daniel Day-Lewis, den alle nur mit Rollennamen ansprechen dürfen?
Laetitia Casta: Ich komme nicht an den Drehort, schnippe mit den Fingern und lege los. Ich brauche eine Phase der Konzentration, um mich einzufühlen. Ich plappere dann nicht mit den Technikern über das Wetter und kann es nicht leiden, wenn man mir auf die Schulter klopft und mich mit Fragen ablenkt. Ich bin schließlich am Set, um zu arbeiten, nicht um freundlich und nett zu sein. Ich glaube, es hat einige Kollegen überrascht, dass ich so rigoros war. Aber ich habe mir selbst Druck gemacht, diese Figur so zu spielen, dass sie nicht lächerlich wirkt.
Fantasy-Wesen sind ja auch nicht gerade typisch für französisches Kino und Fernsehen.
Laetitia Casta: Wir Franzosen tun uns – wie vermutlich die meisten Europäer – damit eher schwer. Das ist die Stärke Hollywoods. Wenn amerikanische Schauspieler Superhelden spielen, dann machen sie das mit vollem Ernst. Sie glauben daran, und deswegen funktioniert es. Das ist der Grund, warum sie in der Lage sind, solche Filme zu drehen und wir nicht. Das hat nicht nur mit dem Budget zu tun.
„Die Frau aus dem Meer“ wurde auf Korsika gedreht. Die Landschaft wirkt karg und ziemlich düster. Nicht gerade ein Werbefilm für die „Insel der Schönheit“.
Laetitia Casta: Korsika ist nicht lieblich, dafür sehr authentisch. Es gibt dort unberührte Fischerdörfer, das findet man am Mittelmeer immer seltener. Mich haben die Dreharbeiten in meine Kindheit zurückgebeamt. Es gab Momente, da wollte der Regisseur Julien Trousselier, dass ich Schuhe trage, um besser am Ufer herumklettern zu können. Ich antwortete: Brauche ich nicht, ich kenne diese Felsen in- und auswendig. Ich kann auf steinigem Untergrund barfuß einen Sprint hinlegen.
Sie wurden mit 15 von einem Fotografen an einem korsischen Strand als Model entdeckt. Wie war Ihre Reaktion damals?
Laetitia Casta: Es war ein Geschenk des Himmels. Und zwar nicht so sehr deswegen, weil ich Mannequin wurde, sondern weil sich in meinem Leben endlich etwas Unvorhergesehenes ereignete. Etwas, das mich aus meiner gewohnten Umgebung herauskatapultierte.
Wie wurden Sie zu Hause erzogen?
Laetitia Casta: Schönheit spielte keine Rolle. Meine Familie führte ein einfaches Leben; was zählte, waren Respekt, Fleiß und harte Arbeit. Werte, die ich heute an meine Kinder weitergebe. Allerdings war es für mich damals auch wichtig, eine Vorstellung von mir selbst zu entwickeln, ein Selbstbild. Das war ein langwieriger Prozess, bei dem mir die Mode sehr geholfen hat.
Inwiefern? Als Model dient man ja vor allem als Projektionsfläche.
Laetitia Casta: Das stimmt, als Mannequin hat man nun mal einen Beruf, in dem sich alles um das Visuelle dreht. Man wird von anderen begutachtet, definiert – und in Schubladen gesteckt. Das war für mich auf Dauer nicht akzeptabel. Eines Tages lernte ich zum Glück eine Frau kennen, eine Psychoanalytikerin, mit der ich an diesem Thema gearbeitet habe. Mit ihrer Hilfe habe ich verstanden, dass ich – wie alle anderen Menschen auch – ein komplexes Wesen bin und dass meine Komplexität und mein Intellekt wichtige Teile von mir sind, die ich auch in meiner Arbeit nicht verstecken sollte.
Sie waren eine Vertraute des Modeschöpfers Yves Saint Laurent. Was haben Sie von ihm gelernt?
Laetitia Casta: Als wir uns zum ersten Mal trafen, waren wir ziemlich verkrampft. Wissen Sie, wir sind beide sehr schüchterne Menschen. Aber dann hat er mich mit diesem besonderen Blick angesehen. Ich meine: wirklich gesehen. Er war der erste Mensch, der mir gesagt hat, dass ich schön bin.
Jetzt kokettieren Sie aber!
Laetitia Casta: Wirklich wahr, das hatte ich vorher nie gehört, zumindest nicht so. Er meinte damit nicht mein Äußeres, er mochte Models nicht besonders. Er hatte eine avantgardistische Vision von Weiblichkeit. Damals konnte ich das alles nicht sofort einordnen. Es hat aber dafür noch jahrelang in mir nachgewirkt. Er war es auch, der vorhersah, dass ich nicht immer Model bleiben, sondern eines Tages Schauspielerin sein würde.
Seit 2017 sind Sie mit dem Schauspieler und Regisseur Louis Garrel verheiratet und drehen gemeinsam Filme. Ist es kompliziert, Privates und Berufliches zu trennen?
Laetitia Casta: Zwei Künstler auf einmal, das ist schon nicht ohne. Es funktioniert, weil wir das klar trennen: Wenn ich in einem seiner Filme mitspiele, komme ich als Schauspielerin ans Set. Die Ehefrau bleibt zu Hause. Es geht darum, gemeinsam das beste Ergebnis abzuliefern. Ich lasse mich auf seine Ideen ein, aber das bedeutet nicht, dass ich nicht meine eigene Vision der Rolle habe. Die Butter lasse ich mir auch von Monsieur Garrel nicht vom Brot nehmen.
Sie drehen auch eigene Kurzfilme. „En Moi“ wurde 2016 auf dem Festival in Cannes uraufgeführt.
Laetitia Casta: Es war eine großartige Erfahrung, das Drehbuch zu schreiben und Themen, die mich beschäftigen, einfließen zu lassen. In diesem Fall ging es um die Angst zu versagen und um die Beziehung zwischen Künstler und Muse. Das hat viel mit meiner Vergangenheit als Mannequin zu tun.
Kann dieses Verhältnis gleichberechtigt sein?
Laetitia Casta: Kommt auf den Blick an, mit dem man sich betrachten lässt. Mir persönlich war es immer wichtig, auf Augenhöhe mit Regisseuren und Fotografen zu arbeiten.
Sind Sie Feministin?
Laetitia Casta: Mehr als das. Ich bin, wenn Sie so wollen, eine 360-Grad-Frau, eine Rundum-Feministin. Ich habe in meinem Leben viele Entwicklungsstufen durchlebt, und zwar in beide Richtungen: als Objekt und als Frau, die die Passivität überwunden hat und dafür kämpft, ein handelndes Subjekt zu sein. Ich kenne beide Perspektiven, die des Opfers und die der Siegerin.
Trotzdem haben Sie sich von der #MeToo-Bewegung distanziert. Warum?
Laetitia Casta: Es ist ohne Frage wichtig, über sexuelle Übergriffe zu sprechen. Aber ich finde, das Thema sollte nicht darauf reduziert werden. Wir müssen über noch viel mehr sprechen: über Gehälter zum Beispiel und über die Stellung der Frau in der Gesellschaft. Noch immer kriegen junge Mädchen zu hören: Schlagen Sie die Beine übereinander, Mademoiselle! Warum sollen wir uns für das, was sich zwischen unseren Beinen befindet, schämen? Unsere Sexualität ist noch immer ein Tabu. Dabei ist weibliches Verlangen genauso stark wie männliches. Und, ja, es gibt gewalttätige Frauen, sogar Mörderinnen. Erst wenn man unsere Stärken und Schwächen anerkennt, sind wir Frauen gleichberechtigt.
Wo kann man ansetzen?
Laetitia Casta: Es geht nicht darum, gegen die Männer zu arbeiten, sondern darum, unsere Existenz gemeinsam zu gestalten. Wir müssen uns von Denk-Schubladen befreien, wie zum Beispiel der, dass Männer stark sein und Karriere machen sollen und nie weinen dürfen und Frauen das Gegenteil sind. Ich habe einen kleinen Sohn, ich wünsche mir, dass es für ihn als Erwachsenen selbstverständlich sein wird, Gefühle zu zeigen. Wer weiß? Vielleicht wird es in Zukunft normal sein, dass sich Frauen und Männer gleich anziehen?