Grand Dame des Klaviers, Hohepriesterin, Legende: Es sind ehrwürdige Etiketten, mit denen man einer großen Künstlerin wie Martha Argerich zum runden Geburtstag gratulieren möchte. Doch was ist, wenn die Geehrte, die immer noch mit brillanter Kraft in die Tastatur greift, nicht der Typ für musikalische Glaubensbekenntnisse ist und es hasst, pompös zelebriert zu werden? Kaum hat Argerich die letzte Klaviertaste gedrückt, schon verschwindet sie. Hauptsache weg von der Bühne, von der Bestie Publikum.
Schon als Kind, damals in Buenos Aires, hatte Argerich ein ambivalentes Verhältnis zu Menschen, die ihre Musik liebten. Als „kleines wütendes Mädchen“ mit kurzem, schwarzen Haar hat sie sich in Erinnerung. Erwachsene konnte sie nicht ausstehen, weil diese sie zur Einsamkeit verdammten, indem sie ihren geliebten kleinen Bruder bei den Großeltern unterbrachten. Alles sollte sich auf sie konzentrieren, auf das Wunderkind. Die überehrgeizige Mutter präsentierte ihre Tochter jeden Freitag vor der Crème de la Crème der Musikszene – den Giesekings, Rubinsteins und Arraus – auf den Kammermusik-Matineen von Ernesto Rosenthal. Meist versteckte Martha Argerich sich dort hinter dem Flügel mit dem anderen Wunderkind der Stadt, dem nur ein Jahr jüngeren Daniel Barenboim. Während der siebenjährige Daniel schon damals jeden Auftritt genoss, fühlte Martha sich wie ein „Insekt unter der Lampe“. Ein Gefühl, das sie nie wirklich überwand, das fast alle Beziehungen ihres Lebens prägte. Niemals aber floh Argerich vor ihrem Instrument. Am Klavier fühlte sie sich sicher und unangreifbar. Dort war ihre Heimat. Technische Hürden kannte sie nicht. Was ihr an Konzerten Angst machte, das war der „Zirkus drumherum“.
Eine Verabredung zum Interview mit Martha Argerich hat etwas von einem absurden Theaterstück. „Warten auf Martha“ könnte es heißen – so geschehen vor einigen Jahren in Brescia am Rande ihres Klavierfestivals, in einem prächtigen Hotel. Stunde um Stunde verging. Als die Journalisten bereits die Hoffnung verloren hatten, da erschien sie plötzlich, kurz vor Mitternacht im Restaurant. Dunkel gekleidet, mit bleichen Zügen und schwarzen, umschatteten Augen griff sie sich Pizzabrot von einem Teller. Diejenigen Kollegen, die des Spanischen mächtig waren, erfuhren nun von den kroatisch-katalanisch-jüdischen Wurzeln des Namens Argerich und von einem Dorf, das Argeric heißt. Ein sehr unprätentiöser Auftritt für einen Weltstar – und letztlich ungeheuer charmant.
„Andere versuchen eine Karriere aufzubauen, sie ihre zu zerstören“, sagte einst ein Vertrauter. Als Kind schob sie sich nasses Papier in die Schuhe in der Hoffnung auf eine schwere Erkältung. Als 17-Jährige in Florenz schnitt sie sich absichtlich mit dem Messer in den Finger. Einen Termin mit dem seinerzeit mächtigen EMI-Plattenboss Walter Legge ließ sie platzen, einen Vertrag mit der Deutschen Grammophon lehnte sie zunächst ab. Bald machte der Spitzname „Madame No!“ die Runde, weil sie mehr Konzerte absagte als gab. Veranstalter trieb sie mit der Weigerung, Verträge vorab zu unterschreiben, in den Wahnsinn. Sogar ihren Lehrer, Friedrich Gulda, selbst ein exzentrischer Provokateur und Spinner, brachte sie zur Weißglut. Er beschimpfte sie als „neurotische, willensschwache, verwöhnte Virtuosin“, die „ihr Potenzial mit ihrer chaotischen Existenz“ verschleudere. Sie aber nennt ihn heute „eine der wichtigsten Personen in meinem Leben“.
Immer wieder verzieh man der „Tigressa“ mit den „fliegenden Händen“ und dem „Teufel im Leib“ (Joachim Kaiser). Bezeichnungen, die ihre pianistische Brillanz beschreiben, aber auch der (männlichen) Fantasie entsprangen, die in der schwarzhaarigen Musikerin mit dem Mona-Lisa-Lächeln und dem Schlafzimmerblick eine Femme Fatale witterten. „Ich war sehr kurzsichtig und musste die Augen zusammenkneifen, um die Leute zu erkennen. Das mag mir diesen merkwürdigen Blick verliehen haben“, entgegnet Argerich trocken im Interview. Ihr turbulentes Liebesleben zwischen New York, Los Angeles und Brüssel mit drei Töchtern von unterschiedlichen Vätern, ihre hippieske Musiker-WG in Genf, in der das Leben erst nach Mitternacht begann, gaben dem Tratsch zusätzlichen Stoff.
„Ich bin alt, aber noch immer unreif“, sagte Argerich unlängst der Deutschen Presse-Agentur – etwas kokett, etwas verlegen, so als wolle sie sich für ihr kompliziertes Wesen entschuldigen, das auch ihre Töchter verunsicherte. „Wie ein kleines Mädchen“, erzählt Stéphanie Argerich in ihrem Film „Bloody Daughter“, hätte die Mutter Trost bei ihr und ihrer Schwester gesucht. Besonders vor Auftritten, wenn die Panik bei ihr wieder um sich griff. „Doch dann siehst du dieses Biest da auf der Bühne – und denkst, hm, okay. Du bist vollkommen erschöpft, weil sie all deine Energie und Aufmerksamkeit genommen hat, und dann sitzt sie da am Flügel, stark, präsent, und bringt den Saal zum Einstürzen.“ Ein Widerspruch, der auch an Argerichs 80. Geburtstag nicht aufgelöst werden muss. Schließlich liebe „Maman“ es, „nicht definiert zu werden“.
Ich bin alt, aber noch immer unreif