DIE ERSCHÖPFUNG NACH DEM KNALL

STAATSKRISE Als im August im Beiruter Hafen hochexplosive Chemikalien detonierten und Tote wie Zerstörung hinterließen, war die Wut groß. Jetzt aber herrscht Stille, berichtet Nahost-Korrespondentin Lea Frehse.

FOTO: STR/NURPHOTO/DPA

Es ist still geworden in Beirut. An jenem Abend zum Beispiel, genau einen Monat nach der Explosion. Eben ist über dem Märtyrerplatz in der Stadtmitte die Sonne untergegangen, jetzt zünden sie hier Kerzen an: Lichter des Gedenkens an die mehr als 190 Toten. Zwei junge Frauen mit Megaphon lesen die Namen der Verstorbenen vor. Dann ziehen die Trauernden ihrer Wege. Nicht einmal hundert sind gekommen. Auch in den folgenden Wochen bleibt der große Platz leer. Im vergangenen Jahr hatten hier noch Hunderttausende gegen die Korruption der politischen Eliten demonstriert. Die Explosion zeigte, wie zerstörerisch diese Korruption ist. Sie konnte nur geschehen, weil die Behörden jahrelang über die ungesicherte Lagerung von Gefahrgut im Hafen hinweggesehen hatten. Doch ausgerechnet nach dem großen Knall bleiben laute Proteste aus. Es ist, als habe es der Stadt die Sprache verschlagen.
Mich erreichte die Nachricht von der Katastrophe am 4. August in vielen kurzen Botschaften: Bist du okay? Ich lebe seit Anfang 2019 als Korrespondentin in Beirut. Meine Wohnung liegt nahe dem Märtyrerplatz – und dem Hafen. Wenige Tage vor der Explosion war ich abgereist, zum ersten Mal seit Beginn der Corona-Pandemie war ich in Deutschland. Nun scrollte ich durch Bilder, die kaum zu glauben waren: die riesige, rötliche Rauchwolke, Blut und Trümmer in den Straßen, die zuletzt mein Zuhause geworden waren.

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Kneipenöffnungen als Form des Widerstands
Als ich kurz zuvor aus Beirut losgeflogen war, war die Stadt dunkel gewesen. Der Libanon erlebte die schwerste Wirtschaftskrise seiner Geschichte, Treibstoff und Strom waren knapp. Das Land war schon am Boden gewesen, als die Explosion es erschütterte. Ich nahm den nächsten Flug zurück. Mitten in der Nacht stand ich vor meinem Haus, kein Licht brannte, nichts war zu hören außer dem Knirschen von Schutt unter meinen Füßen. Ich wusste, dass alle meine Freunde und Nachbarn überlebt hatten. Jetzt wusste ich nicht mehr, wie: Meine Wohnung, etwa 700 Meter von den Lagerhallen am Hafen entfernt, hatte kein einziges Fenster und keine Tür mehr. Im Wohnzimmer fand ich einen Haufen Scherben.
Nachbarn hatten sie schon zusammengekehrt. In den ersten Tagen nach dem Schock war das ganze Viertel in Bewegung. Es wurde geschippt und gesägt, es wurden Sanitätszelte aufgeschlagen und Brote verteilt, Kamerateams aus der ganzen Welt filmten die Stadt. Für das erste Wochenende nach der Explosion riefen Aktivisten zur Großdemonstration auf dem Märtyrerplatz auf. Zehntausende kamen, trotz der Pandemie. Jemand hatte Galgen aufgebaut und Fotos der politischen Führungsfiguren daran gehängt. Da war eine große, verzweifelte Wut. Doch die Menge blieb merkwürdig ruhig. Man war in Trauer, so schien es unangemessen, zu rufen oder zu singen. Junge Männer schmissen Steine auf die schicken Bürotürme am Platz. Nur hatten die keine Scheiben mehr. Demonstranten stürmten schließlich das Außenministerium. Das hatte nicht mal mehr ein Dach. Die Sicherheitskräfte trieben die Menge rasch mit Tränengas auseinander. Der Wind trieb es durch meine fensterlose Wohnung

Ausgerechnet nach dem großen Knall bleibt der laute Protest aus. Es ist, als hätte es der Stadt die Sprache verschlagen.

LEA FREHSE, Journalistin