»DIE GANZE WELT BEWEGT SICH«

AKTIVISMUS Für die ARTE-Dokumentation „Und jetzt wir!“ traf die Journalistin Aline Abboud junge Aktivisten in Deutschland, Frankreich und Polen. Was unterscheidet ihren Protest von dem vergangener Zeiten?

FOTO: ALEXANDER RENTSCH

Weltweit geht eine Generation auf die Straßen, weil ihre eigene Zukunft und die der Erde bedroht ist. Doch die Frage ist: Was kann und will die Jugend mit ihrem Aktivismus erreichen? Um das herauszufinden, unternahm die Journalistin Aline Abboud für ihre Doku „Und jetzt wir!“, die ARTE im November zeigt, eine investigative Reise ins Zentrum des Unmuts – und sprach mit Wissenschaftlerinnen und Politikern über das, was junge Menschen beschäftigt. Herausgekommen ist eine Momentaufnahme der jugendlichen Protestkultur im Krisenjahr 2020. Ein Gespräch über Zusammenhalt in Krisenzeiten und den Verlust der Unbekümmertheit.

„Und jetzt wir!“ – Eine Generation schlägt Alarm

Dokumentarfilm

Dienstag, 24.11. • 21.45 Uhr
bis 23.11.2021 in der Mediathek

ARTE MAGAZIN Frau Abboud, was sind die eindrücklichsten Erinnerungen Ihrer Reise?
Aline Abboud Ich bin sehr starken jungen Menschen begegnet, die für verschiedene Ziele kämpfen: für das Klima in Deutschland; für Menschenrechte und Freiheit in Polen; gegen soziale Ungerechtigkeit und Rassismus in Frankreich. Wir wollten herausfinden, ob ein Dialog stattfindet zwischen den Jugendlichen, die Forderungen stellen, und den Entscheidungsträgern, an die sich diese Forderungen richten. Denn oft scheitert es bereits daran, dass die Menschen sich nicht an einen Tisch setzen und einen Dialog führen.
ARTE MAGAZIN Aber in Deutschland sieht es doch so aus, als fände ein Dialog statt. Angela Merkel trifft sich zum Gespräch mit Greta Thunberg oder Luisa Neubauer. Aline Abboud International gibt es aber große Unterschiede. In Deutschland führen junge Aktivistinnen mit Politikern Gespräche zu Klimafragen. Am Ende zählt natürlich politisches Handeln, aber der Wille ist schon mal da. In Polen ist das anders. Beim Dreh in Warschau haben wir uns gefragt, ob es denn überhaupt schon mal ein Treffen gab zwischen der LGBTQ+ Community und der konservativen Regierung von Andrzej Duda. Es stellte sich heraus: nein.
ARTE MAGAZIN Hat Sie die Lage dort überrascht? Immerhin ist Polen unser direktes Nachbarland.
Aline Abboud Es hat mich tatsächlich überrascht. Was wir hier aus Polen mitbekommen, ist nur ein Bruchteil dessen, was wirklich passiert. Mit Frankreich ist es ähnlich. Mir war nicht klar, dass die Zweiklassengesellschaft dort so viel ausgeprägter ist als bei uns. Ich wusste auch nicht, dass Frankreich so ein großes Problem mit Polizeigewalt hat. Wir haben bei einer Demonstration in Paris gedreht, und es gab Momente, in denen ich wirklich Angst hatte, dass die Polizisten auf uns zurennen und drauflosschlagen würden.
ARTE MAGAZIN Waren Sie in Ihrer Jugend selbst auf Demonstrationen unterwegs?
Aline Abboud Ich muss ganz salopp sagen: Ich hatte damals das Privileg, dass ich mir über die großen Fragen von heute keine Gedanken machen musste. Das Klima war noch kein so großes Thema, ich konnte meine Meinung sagen, ich durfte lieben, wen ich wollte. Ich hatte damals nicht unbedingt das Gefühl, auf die Straße gehen zu müssen. Ich erinnere mich nur an eine Demo: Das war 2003, als es um die deutsche Beteiligung am Irak-Krieg ging.
ARTE MAGAZIN Was hat sich seither geändert? Aline Abboud Ich glaube, dass das Jahr 2020 auf vielen Ebenen speziell, wenn nicht gar historisch ist. Die Corona-Pandemie hat uns alle auf einmal dazu gezwungen, stillzustehen. Das hat soziale Ungerechtigkeiten sichtbarer gemacht und viele andere Protestbewegungen befeuert, sei es Black Lives Matter, LGBTQ+ oder auch die der sozialen Gerechtigkeit.
ARTE MAGAZIN Welche Rolle spielt das Internet dabei?
Aline Abboud Für mich ist die große Rolle von sozialen Medien völlig klar. Diese Bewegungen konnten sich überhaupt nur formieren, weil man sich besser vernetzen kann. Man sieht mehr Leid aus anderen Ländern. Gleichzeitig hat man aber auch den Rückhalt von Menschen, die sich mit einem solidarisieren und einen anspornen. Diese Entwicklung ist so rasant passiert. Ich gehöre zu einer Generation, die noch ohne Handy auf der Straße gespielt hat. Diese Freiheit und Unbekümmertheit vermisse ich ehrlich gesagt manchmal.
ARTE MAGAZIN Unterscheidet sich die aktuelle Protestbewegung von früheren, wie zum Beispiel der 68er-Bewegung?
Aline Abboud Ich war damals nicht dabei, aber was wir gerade sehen, ist eine globale Bewegung junger Menschen, die für verschiedene, große Ziele auf die Straße gehen und keine Angst vor Autoritäten haben. Ich kenne auch ältere Leute, die genau das für historisch halten. Man hat das Gefühl: Wow, die ganze Welt bewegt sich gerade. In jedem Land passiert irgendetwas.
ARTE MAGAZIN Sie selbst haben libanesische Wurzeln. Auch dort passiert gerade viel.
Aline Abboud Absolut. Seit dem vergangenen Jahr geht im Libanon gefühlt das halbe Land auf die Straße. Auch dort sind es vor allem junge Leute, die gegen das System kämpfen. Die Situation dort ist Wahnsinn, und die Explosion am 4. August hat die Lage noch mal zugespitzt. Davon können wir uns hier in Deutschland gar keine Vorstellung machen. Aber gerade im Libanon finde ich faszinierend, wie stark der Zusammenhalt trotz alledem ist. Dieses Gefühl der Stärke und der Motivation finde ich beeindruckend, und ich glaube, das ist das Besondere an dieser Zeit.
ARTE MAGAZIN Haben Sie also trotz aller Krisen auch ein wenig Hoffnung?
Aline Abboud Es gibt mir zumindest Hoffnung, dass all diese jungen Leute den Mut und die Kraft haben, für etwas zu kämpfen. Es reicht aber nicht, dass nur sie es tun. Die Jugend hat uns mit ihren Protesten einen Spiegel vorgehalten und auf sehr große Themen aufmerksam gemacht. Das sollten wir nicht belächeln oder abwerten. Wir sollten uns glücklich schätzen, dass diese Generation ein so großes Verantwortungsbewusstsein hat. Davon bin ich persönlich wirklich beeindruckt. Aber jetzt müssen wir auch etwas daraus machen.

Ich glaube, dass das Jahr 2020 auf vielen Ebenen speziell, wenn nicht gar historisch ist