»Die größte Rotzpiepn«

Was ist schon „gut“ in dieser Kindheit? Der Film „Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein“ vermischt – wie die Buchvorlage von André Heller – Realität und Fiktion auf grandiose Weise.

Foto: Dor Film/Anjeza Cikopano/SR

Wie er da steht, der Vater, auf dem wackelnden, schunkelnden Boot und Steine wirft, scheinbar ziellos, und dabei singt: „Irgendwo auf der Welt gibt’s ein bisschen Seligkeit, und ich träum davon schon lange lange Zeit.“ Und die Mutter am Steg steht, mit resigniertem Blick. Und der Junge am Tisch sitzt, halb träumerisch, halb verzweifelnd. Im Hintergrund blitzen die schneebedeckten Berggipfel, das Wasser schimmert grün. Es ist eigentlich keine Szene, es ist ein Gemälde, das sich bewegt. Die Frau beginnt zu rennen, stürzt sich in den See, der Vater schlägt mit dem Ruder auf sie ein, anstatt sie zu retten. Der Junge springt hinterher, es geht gerade noch einmal gut aus. Aber was ist schon „gut“ in dieser Kindheit?

„Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein“ heißt der Film, den Regisseur Rupert Henning gemacht hat, basierend auf dem gleichnamigen Buch des österreichischen Künstlers ­André ­Heller. Schon das Buch vermischte Realität und Fiktion, denn ­Heller erzählt darin zwar seine eigene Kindheit der Nachkriegszeit, nennt sich selbst aber Paul ­Silberstein (­Valentin Hagg) und erfindet allerhand dazu. Der Film wiederum ist keine strenge Verfilmung, sondern „nach den Motiven“ der Geschichte neu erzählt. Ein doppeltes Märchen – und umso fantastischer, dichter und kraftvoller sind die Bilder, die der Film findet, um es zu erzählen.

Paul Silberstein ist ein „merkwürdiges Kind“, wie seine Mutter ihn nennt. Gefangen zwischen dem cholerischen und überstrengen Vater (großartig gespielt von Karl ­Marcovics) und der kühlen, unterworfenen Mutter (ebenso großartig: ­Sabine ­Timoteo) wächst Paul zwar wohl­habend, emotional aber dafür umso ärmer auf. Ein üppiges Anwesen in Wien, feine Anzüge schon als Kind, nur das Beste. Aber Paul ist störrisch. Er kommt ins Internat, widersetzt sich den Regeln, nimmt es sich zum Ziel, „anders zu werden als die anderen“. Er führt eine Angstliste. Erstens: Erstickungsangst. Zweitens: Dass seine Beine ihn nicht mehr tragen. Drittens: Sein körperliches und geistiges Wachstum hört unvermittelt auf. Viertens: Angst vor dem Erfrieren. Um seinen Ängsten zu entkommen, flüchtet er sich in seine Fantasie. Er spinnt sich Geschichten zurecht, erträumt sich Abenteuer im Internatsalltag und ist geradezu glücklich, als der Vater stirbt. Weil er dann wieder nach Hause darf.

Was davon genau Heller erlebt hat, was schon im Buch verdichtet war und was der Film noch einmal verstärkt hat, das wird man wohl nie wirklich wissen. Ist aber auch nicht wichtig. Denn die Geschichte von ­Heller weist weit über ihn hinaus. Es geht um das Weiterleben der Juden nach dem Holocaust, gefangen in dem Paradox, sich glücklich zu schätzen, überlebt zu haben, und sich gleichzeitig dafür zu schämen. Es geht um die Katholische Kirche und das letzte Aufbäumen des Patriarchats. Es geht um Fantasie und die Frage, ob es überhaupt wünschenswert ist, das Kind in sich aufzugeben.

Foto: Dor Film/Patrick Topitschnig/SR

Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein

Drama

Freitag, 5.2. – 20.15 Uhr
bis 11.2. in der Mediathek

Herumtreiber, Liedermacher, Zirkusdirektor
„Ich war eh die größte Rotzpiepn im Land“, hat ­André ­Heller mal gesagt. Er, den man kaum fassen kann, weil er sich immer möglichst schnell weitergedreht hat. Schriftsteller, Herumtreiber, Liedermacher, Zirkusdirektor, Popstar, Theaterregisseur, Entertainer. Er verspüre manchmal so einen „Überdruck im Kopf“, sagte ­Heller in einer Dokumentation, und man meint diesen Überdruck förmlich zu spüren, wenn man ihm in Interviews zuhört, in seinen Liedern oder eben diese Verfilmung ansieht. So viel ist da, was raus muss.

Im Film gelingt es dem 15-jährigen Valentin Hagg geradezu unheimlich gut, diesen Überdruck darzustellen, den Heller beschreibt. Er hat so viel Energie, dass er sie entweder raustanzen, rausschreien oder rausspringen muss – oder sie in Träume verwandelt. Er hat große Pläne für die Zukunft: Inhaber des Eichkatzl-fütterungsmonopols im Schönbrunner Zoo will er sein. In einem Asbestanzug in das Innere des Vesuvs klettern, um Feuerfische zu fangen. Oder Weltmeister im Unsichtbarsein werden.

Zumindest Letzteres ist der echte ­André ­Heller nie geworden. Im Gegenteil. Die Aufmerksamkeit war ihm stets sicher, das Rampenlicht sein Elixier. Wobei: Vielleicht war diese Künstlerexistenz ja auch nur der Versuch, von sich selbst abzulenken. Dann jedenfalls wäre der echte ­Heller tatsächlich unsichtbar. Was für das Publikum nicht schlimm wäre. Wir haben ja den Künstler.

Manchmal habe ich Überdruck im Kopf

André Heller, Multimediakünstler