Die guten Viren

Die lange vernachlässigte Forschung zu Bakteriophagen erlebt derzeit eine Renaissance. Die Bakterien fressenden Viren gelten als Hoffnungsträger im Kampf gegen die Antibiotika-Krise, die immer mehr Tote fordert.

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Hospitalisierungsrate, Inzidenzwert, Delta-Variante, Mortalität – das Coronavirus SARS-CoV-2 hat unserem Alltag eine Menge neuer Vokabeln beschert. Es sind Wörter, die Angst auslösen. Plötzlich wird unsere moderne, hochtechnisierte Welt von etwas bedroht, das gerade einmal 80 bis 140 Nano­meter groß ist. Was dabei schnell in Vergessenheit gerät: Viren sind für Menschen nicht nur todbringende Gegner, die es zu fürchten und zu vernichten gilt. Sie besitzen auch natürliche Superkräfte, von denen wir massiv profitieren können.

Für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind Viren sogar so etwas wie Hoffnungsträger – als Mittel gegen die steigende Zahl der Antibiotikaresistenzen. Die WHO fordert dringend Alternativen zu Antibiotika und nimmt dafür unter anderem Bakteriophagen ins Visier – Viren, die gezielt Bakterien töten.

Dass Viren dem Menschen nicht nur schaden, entdeckten Forscher bereits vor rund 100 Jahren. Zu jener Zeit hatten Ärzte eher eine grobe Idee davon, was ein Virus ist: Der niederländische Mikrobiologe ­Martinus ­Willem ­Beijerinck hatte Ende des 19. Jahrhunderts aufgrund seiner Versuche mit kranken Tabakpflanzen das Bild von einer ansteckenden, lebenden Flüssigkeit geprägt, einem „contagium vivum fluidum“. Die Unbekannte hieß „virus“ – lateinisch für „Gift“ oder „Schleim“. Dass Viren kleinste Partikel sind, belegten die deutschen Forscher ­Friedrich ­Loeffler und Paul Frosch 1898. Erst 1917 zeigte der Frankokanadier ­Félix ­Hubert d’Hérelle­, welche positive Eigenschaft in Viren steckt – und legte damit den Grundstein für eine bis heute wertvolle Therapie. Dem Bakteriologen vom Institut ­Pasteur in Paris war etwas Sonderbares aufgefallen: Dort, wo er Bakterienkulturen einer bestimmten Durchfallerkrankung angelegt hatte, entstanden Flächen, auf denen die Bakterien verschwunden waren. D’Hérelle zufolge zerstörten winzige Mikroben die Bakterien, diese Viren nannte er „Bakteriophagen“, zu Deutsch: Bakterienfresser. 1919 nutzte er diese Fähigkeit und behandelte erstmals einen mit Durchfallbakterien infizierten Menschen mit Bakteriophagen. Ein Erfolg.

Das Prinzip der Therapie klingt schlüssig: Von den Bakteriophagen-Arten, die es auf der Welt gibt – und es gibt sie überall, in Gewässern genauso wie in großer Zahl im menschlichen Darm –, werden spezifische Phagen für ein bestimmtes Bakterium generiert. Für das Bakterium „Staphylococcus aureus “ etwa werden genau die Phagen bestimmt, die diese Bakterienart zerstören. Die stäbchenförmigen Phagen docken sich gezielt an und schleusen ihre DNA oder RNA in die Bakterien. Mit diesem Bauplan entwickeln sich im Bakterium neue Phagen – bis das Bakterium platzt. So gelangen die neu produzierten Phagen in den Organismus und greifen weitere Bakterien an.

Das Virus in uns

Wissenschaftsdoku

Samstag, 11.12. — 22.00 Uhr

bis 10.3.2022 in der Mediathek

Immer mehr resistente Bakterien

Dass d’Hérelles Entdeckung ein wichtiger Baustein in der sich seit Jahren zuspitzenden Antibiotika-Krise werden könnte, ahnte lange niemand. „Das Faszinierende an Phagen ist, dass sie als Antiinfektivum kaum oder gar keine Nebenwirkungen erzeugen“, erzählt ­Holger Ziehr, Leiter der Pharmazeutischen Biotechnologie am Fraunhofer-­Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin (ITEM), dem ARTE Magazin. Mit dem Leibniz-Institut Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ) und der Charité forscht der Biotechnologe seit 2017 am Projekt „­Phage4Cure“. Das Ziel: Bakteriophagen als Medikament im Kampf gegen bakterielle Infektionen zu etablieren und zur arzneimittelrechtlichen Zulassung zu bringen.

Das ist jetzt dringlicher denn je, denn: Laut WHO werden bis 2050 jährlich bis zu zehn Millionen Menschen weltweit resistenten Bakterien zum Opfer fallen, wenn nicht schnell neue Therapiemöglichkeiten gefunden werden. Warum aber hat sich die Behandlung mit Phagen nicht längst durchgesetzt? Die Antwort erscheint simpel: Nachdem Anfang der 1940er Jahre erste Patienten mit Penicillin behandelt und weitere Antibiotika entwickelt wurden, die in den USA und Deutschland alsbald industriell und günstig hergestellt werden konnten, kamen vor allem diese Medikamente zum Einsatz im Kampf gegen bakteriell bedingte Krankheiten. Die Phagentherapie geriet im Westen in Vergessenheit. Gehemmt wurde die Phagen-­Forschung zudem durch den mangelhaften Austausch zwischen Ost und West während des Kalten Krieges.

D’Hérelle­ hatte noch mit dem georgisch-sowjetischen Bakteriologen ­Georgi ­Eliava in Paris zusammengearbeitet, der das Wissen über Phagen nach Georgien brachte. In Tiflis gründete Eliava 1923 das heutige Eliava-­Institut, in dem seither an Bakteriophagen geforscht wird. Da der Zugang zu Antibiotika in den Ostblockstaaten erschwert war, blieb die Sowjetunion bei der Erforschung und Anwendung von Phagen. Noch immer gilt