Eigentlich hatte Raoul Peck geglaubt, er hätte in seinem letzten Dokumentarfilm alles zum Thema Rassismus gesagt, was es zu sagen gab. Treffendere Worte als in „I Am Not Your Negro“ (2015) hätte er nicht finden können, schließlich waren es die des afroamerikanischen Schriftstellers James Baldwin (1924–1987), eine der wichtigsten literarischen Stimmen im Kampf gegen Rassismus in den USA. Zehn Jahre lang hatte Peck an der Verfilmung von Baldwins unvollendetem Manuskript „Remember This House“ gearbeitet, das persönliche Erinnerungen an prägende Figuren der schwarzen Bürgerrechtsbewegung enthielt, darunter Malcolm X (1925–1965) und Martin Luther King (1929–1968).
„I Am Not Your Negro“ wurde mit Dutzenden Filmpreisen ausgezeichnet, 2017 folgte eine Oscarnominierung in der Kategorie Bester Dokumentarfilm. Was Peck erstaunte: Trotz des großen internationalen Erfolgs waren die Reaktionen auf seinen Film arglos, bisweilen defensiv – insbesondere in Europa: „Ich traf auf Menschen, die der Meinung waren, Rassismus sei ein amerikanisches Problem, das sie nicht betrifft“, so der Regisseur im Interview mit ARTE. Für Peck, der in Deutschland Film studierte und seit über 15 Jahren in Frankreich lebt, „ein Ausdruck schierer Ignoranz – und ein Zeichen, dass sie nichts verstanden hatten“. Was Peck fehlte, war eine europäische Aufarbeitung der Kolonialgeschichte – und eine kritische Reflexion über ihr Fortwirken in der Gegenwart. Gerade Europäer seien bis heute Nutznießer des Kolonialismus, der Sklaverei und des systemischen Rassismus. „Da Baldwin nicht gereicht hatte, musste ich noch tiefer graben“, so Peck. „In meinem nächsten Film wollte ich bis zu den Ursprüngen des Rassismus und der weißen Vorherrschaft durchdringen.“
Vier Jahre lang durchkämmte der Regisseur Archive, studierte postkoloniale Literatur, sprach mit Historikern – und entwickelte ein Drehbuch von gigantischem Ausmaß. Herausgekommen ist ein filmischer Streifzug durch 600 Jahre Menschheitsgeschichte, von der Besiedelung Amerikas durch Europäer über die Kolonisierung Afrikas bis zum Holocaust in Europa, erzählt aus einer radikal anderen Perspektive als der des Westens. ARTE strahlt die vierteilige Dokumentarfilmreihe mit dem Titel „Rottet die Bestien aus!“ im Februar aus.
Ich wollte bis zu den Ursprüngen des Rassismus durchdringen
Wie ein Archäologe auf Spurensuche
Weit offensichtlicher als in früheren Politdramen wie „Lumumba“ (2000) oder „Als das Morden begann“ (2005) thematisiert Peck in „Rottet die Bestien aus!“ seine eigene migrantische Biografie und seine Erfahrungen als Schwarzer. „In meinem Film gehe ich wie ein Archäologe auf Spurensuche nach dem, was mich geprägt hat“, betont der Filmemacher.
1953 in Port-au-Prince, Haiti, geboren, lernte Peck als Grundschüler die Geschichte des karibischen Inselstaates kennen, dessen Bevölkerung sich selbst aus der Sklaverei befreite und der sich die Unabhängigkeit von den europäischen Kolonialmächten vergleichsweise früh erkämpfte. Weil sein Vater eine Stelle im früheren Belgisch-Kongo annahm, emigrierte Pecks Familie 1960 nach Kinshasa (damaliges Léopoldville). Dort erlebte er die politischen Ereignisse um die Unabhängigkeit – teils aus großer Nähe. Später, während seines Studiums in den USA, Berlin und Paris, habe er dann festgestellt, dass weder die kolonialen Verbrechen noch die Freiheitskämpfe der lokalen Bevölkerungen in den Geschichtsbüchern westlicher Länder eine Rolle spielten. „Ich verstand, dass jeder die Geschichte gemäß seiner eigenen nationalen Erzählung erlernt“, sagt Peck. Das Selbstbild Europas als „Wiege des Fortschritts“ – für den Regisseur so bigott wie der Gründungsmythos der USA als „Land der Freien“: „Vom selbst ernannten Sieger aufgezwungen sind diese Geschichtserzählungen falsch – oder zumindest nicht vollständig“, so Peck. Seine Filmreihe ist der Versuch, diese Narrative zu dekonstruieren.
Als größte Schwierigkeit für den Regisseur erwies sich der Umstand, dass fast alle historischen Aufnahmen von Europäern gemacht wurden. Um einer eurozentrischen Erzählweise zu entgehen, arbeitet er neben wenigen, ausgewählten Archivaufnahmen darum mit Illustrationen und gescripteten Sequenzen, in denen Schauspielende koloniale Szenen nachstellen. Zum einen vermeide er so die Reproduktion des sogenannten weißen Blicks. Zum anderen wolle er die Zuschauenden durch unerwartete Bilder in ihren Gedankengängen erschüttern. So kehrt Peck mittels fiktiver Sequenzen die Machtverhältnisse der Geschichte um: in Gestalt von Kindersklaven, die von ihren Sklaventreibern brutal misshandelt werden. Jedoch: Die Sklaven sind weiß, ihre Peiniger schwarz. „Das sind unbequeme, nie zuvor auf einer Leinwand gesehene Bilder“, kommentiert Peck. Sie sollen Zuschauende dazu bringen, sich in die Lage des „Anderen“ zu versetzen und infrage zu stellen, was sie für gegeben hielten.
Trotz fiktiver Elemente bleibt „Rottet die Bestien aus!“ in der realen Geschichte verankert. Den theoretischen Rahmen bildet die Forschungsarbeit des schwedischen Literaturhistorikers Sven Lindqvist (1932–2019). Lindqvist, zu Lebzeiten ein enger Freund Pecks, begreift die europäische Kolonialgeschichte – und die damit einhergegangenen Genozide – als Auswüchse der rassistischen Überlegenheitsfantasien der weißen, christlichen Eroberer. Deren Wahn setzte sich im 20. Jahrhundert laut Lindqvist im Holocaust fort, als Deutsche und ihre Helfer über sechs Millionen Juden ermordeten.
Deutungshoheit im Historikerstreit
Mit Bezug auf Lindqvists Forschung bezieht Peck in „Rottet die Bestien aus!“ Stellung im sogenannten Historikerstreit, der 1986/87 – vor allem in Deutschland – von Intellektuellen geführt wurde. Zur Debatte stand, was es bedeutete, den Holocaust – ein Menschheitsverbrechen, das als einzigartig gilt – mit einer anderen Geschichte besonderer Gewalt zu vergleichen, der des sowjetischen Zwangsarbeitssystems Gulag. 2020 entfachte der Streit erneut: Der kamerunische Historiker Achille Mbembe schrieb in einem Text, der Holocaust und das Apartheidsregime in Südafrika seien Manifestationen derselben „Trennungsfantasie“ – wenngleich in einer anderen Größenordnung und in einem anderen Kontext. Kritik kam schnell und harsch: Mbembe wurde der Holocaust-Relativierung bezichtigt und von der Ruhrtriennale 2020 ausgeladen.
Peck, der die Deutungshoheit über das Geschehene nicht den Deutschen überlassen will, greift die Kontroverse um die Vergleichbarkeit verschiedener Genozide erneut auf. Der Massenmord in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern, so formuliert es Peck in seinem Film, sei die „moderne industrielle Anwendung etablierter Vernichtungsmethoden“. Mit dieser Betrachtungsweise könne man den Holocaust durchaus mit anderen Genoziden vergleichen – und Gemeinsamkeiten und Unterschiede feststellen. Entscheidend ist für Peck nicht die Zahl der Opfer, sondern die Absicht der Täter. „Der Mechanismus ist immer derselbe“, so Peck. Er bestehe darin, den „Anderen“ zu entmenschlichen – und der Vernichtung zuzuführen. „Ich will keine Geschichtslektionen erteilen“, betont Peck. Aber er fechte das vom Westen beanspruchte Recht an, die Geschichte der Menschheit allein und mit allumfassender Gültigkeit zu erzählen. „Das ist der Sinn meines Films, den ich als Instrument des Wandels verstehe.“
Zuschauende sollen infrage stellen, was sie für gegeben halten