Es ist, einerseits, eine Szene, wie sie jedem passieren kann: Man sitzt im Restaurant, bestellt, möchte aber andere Beilagen. Doch die Kellnerin weigert sich strikt: „Nicht vorgesehen.“ Es ist, andererseits, eine Szene mit filmhistorischer Bedeutung. In dem Charakterdrama „Five Easy Pieces – Ein Mann sucht sich selbst“ (1971) wird Jack Nicholson in der Rolle eines frustrierten Außenseiters auf diese Weise von der Bedienung abgekanzelt. Statt klein beizugeben, reagiert er mit Trotz: Er wischt, mit nur einer Armbewegung, sämtliche Gläser vom Tisch.
Damals, Anfang der 1970er Jahre, befand sich Jack Nicholsons Karriere noch in ihrer Anfangsphase. Der Film brachte ihm seine erste Oscar-nominierung für die beste Hauptrolle ein – die zwei Sekunden dauernde Tischszene allerdings legte den Grundstein für das Image, das der Schauspieler in den folgenden Jahrzehnten genüsslich ausbauen sollte.
Nicholson hatte offenbar schon früh eine klare Vorstellung von seiner Wunschidentität als Schauspieler. Konsequent arbeitete er sich an einem ganz bestimmten Typus Mann ab: dem Widerspenstigen, der mit seiner überschäumenden Emotionalität die Regeln der Gesellschaft durchbricht und dabei zu einem – teils fragwürdigen – Symbol urtümlicher Freiheit wird. Im Nonkonformisten-Epos „Easy Rider“ (1969) saß Nicholson marihuanarauchend am Lagerfeuer. Später wurde er zum hormongetriebenen Vagabunden in „Wenn der Postmann zweimal klingelt“ (1981), zum Teufel, der die „Hexen von Eastwick“ (1987) verführte, zum Joker, der „Batman“ (1989) auf der Nase herumtanzte, zum menschlichen „Wolf“ (1994) oder zum Militärkommandeur, der in „Eine Frage der Ehre“ (1993) über Recht und Gesetz zu stehen glaubte. Im mit fünf Oscars ausgezeichneten „Einer flog über das Kuckucksnest“ (1976) sprengte Nicholson die menschenverachtende Ordnung einer Psychiatrie. Und wenn er wie in „Besser geht’s nicht“ (1998) in seinen eigenen Zwangsvorstellungen gefangen war, dann bezog der Film seine Spannung daraus, dass er lernt, diese zu überwinden. Eine bitterböse Variation seines widerspenstigen Grundcharakters zeigte Nicholson in „Shining“ (1980), in dem er die Zwänge von Familien- und Berufsleben mit der Axt kleinzuhacken versucht.
„Alles Autobiografie“
Doch wie viel seiner Persönlichkeit steckt in dem konstant verkörperten Rollentypus? War er es selbst, den er da immer und immer wieder verkörperte? „Es ist alles Autobiografie“, stellte Jack Nicholson dazu klar. Bei einem Interview zu einem seiner Spätwerke war davon jedoch zunächst wenig zu spüren. Da wirkte der mittlerweile 82-jährige Hollywood-Star wie ein friedfertiger Rentner, der es gemütlich angehen lässt – zumindest solange, bis er sich in der Nichtraucher-Hotelsuite eine Zigarette ansteckte. Und dann noch eine. Ein Akt der Rebellion. Noch immer.
Freie Liebe – ein Leben lang
Womöglich machte das Alter seinen Charakter etwas milder. Auch der Umstand, dass Nicholson unausgesprochen den Ruhestand antrat – vergangenes Jahr stieg er aus dem geplanten US-Remake von „Toni Erdmann“ (2016) aus –, deutet an, dass das Feuer erloschen ist. Es heißt, er leide unter Gedächtnisverlust. Indes: Der wahre Jack Nicholson ließ sich sowieso nicht unbedingt im Rahmen offizieller PR-Auftritte erleben. Bezeichnend war eher der Dreh zu „Departed – Unter Feinden“ (2006), wo er Martin Scorsese explizite Vorschläge zur Sexualität seiner Figur, einem exzentrischen Gangsterboss, machte. Der Regisseur nahm dankend an. Deshalb ist Nicholson in einer Szene mit einem übergestülpten Dildo zu sehen.
Dieses Beispiel ist nicht zufällig gewählt. Denn wer das Phänomen Nicholson erklären will, der muss auch seine, vorsichtig formuliert, äußerst starke Libido miteinbeziehen. Die Tatsache, dass er auf zahllose Beziehungen und Affären zurückblicken kann – eine seiner prominentesten Partnerinnen war Anjelica Huston –, ist dabei zweitrangig. Entscheidend ist, dass er, klassisch für Männer seiner Generation, die Sexualisierung des Lebens als etwas Selbstverständliches betrachtete. Und zwar seit Beginn seiner Zeit in Hollywood. Mit 17 bekam er einen Bürojob beim Studio Metro-Goldwyn-Mayer. Am prägendsten empfand er dabei, das hat er oft erzählt, die Situation, wie er der Schauspielerin Lana Turner bei Dreharbeiten unter den Rock schauen konnte. „Ich war an der technischen Seite des Filmemachens nicht interessiert“, bekannte er sich offen zum Chauvinismus. Zu den Hochzeiten der sexuellen Revolution, in den späten 1960ern, spazierte Nicholson zu Hause auch schon mal mehrere Monate lang ausschließlich nackt herum. Von Protesten seiner ältesten Tochter, die damals neun Jahre alt war, ließ er sich dabei nicht beirren. In seiner Regiearbeit „Drive, He Said“ (1971) setzte er in mehreren Szenen eine nackte Darstellerin ins Bild – ohne dramaturgische Notwendigkeit, nur um die Freigabebehörde zu irritieren.
Mit der Sensibilität von heute betrachtet, wirken viele von Jack Nicholsons Aktionen fragwürdig und sexistisch. Aber wer die Ausstrahlung von Nicholson bewundert, muss auch verstehen, woher deren fast animalische Anmutung rührt. Auf der Leinwand zu sehen: echte Triebkräfte, lediglich künstlerisch gefiltert. Das Handwerk dazu lernte er bei einem der großen Mentoren der Freiheitsliebe, dem Regisseur und Produzenten Roger Corman. Der drehte Billigfilme, deren Storys sich nicht um die bürgerlichen Konventionen Hollywoods scherten, und gab gleichzeitig neuen Talenten eine Chance – darunter Regisseuren wie Martin Scorsese und Francis Ford Coppola und eben Nicholson, der nicht nur spielte, sondern auch Teile des Horrorfilms „The Terror“ (1963) inszenierte.
Ganz ohne Hemmungen
Aus freudianischer Sicht verkörperte Nicholson die Kräfte des „Es“, doch er fand dafür auch eine weitere intellektuelle Grundlage: „Ich folge den Philosophien von Wilhelm Reich“, konstatierte er einmal. „Seiner Auffassung nach bewegt sich die Kultur nach rechts, wenn du die Freiheit unterdrückst.“ Für Nicholson wurden die Auffassungen des Psychoanalytikers und Sexualforschers „zu einer neuen Religion“, wie sein Biograf Patrick McGilligan schreibt. Reich propagierte die orgiastische Potenz als Fähigkeit, „sich den Strömen der biologischen Energie ohne Hemmung hinzugeben“. So gesehen war es nur logisch, dass Nicholson die späten 1960er und 1970er als „wunderbare Zeit“ empfand: „Die Freiheit war endlich auf dem Vormarsch.“ Dazu gehörte, dass der Schauspieler auch Drogenerfahrungen sammelte. Das entspannte Fazit seiner LSD-Trips: „Lass es gut sein. Lass los.“ Genauso selbstverständlich erscheint es da, dass Nicholson Aids als „apokalyptische Katastrophe“ empfand, die zur Unterdrückung der gesamten Gesellschaft führe.
Besiegt, bestraft oder ohne Erfüllung
In gewissem Sinne erscheint ein innerer Konflikt als Leitmotiv seiner kreativen Arbeiten: Seine Figuren stoßen in ihrer freien Triebhaftigkeit immer auf Hindernisse – so als wollte Hollywood dem Publikum eine Lektion erteilen. Er ist nicht derjenige, der über das Kuckucksnest fliegt, seine Figuren werden besiegt und bestraft oder bleiben ohne Erfüllung wie in „Five Easy Pieces“. Im Gegensatz dazu scheint Nicholson in seinen jüngsten Filmen geradezu domestiziert. In „About Schmidt“ (2003) wird er mit den Enttäuschungen seines Lebens konfrontiert, in „Das Beste kommt zum Schluss“ (2008) wird er zum Todkranken, in „Was das Herz begehrt“ (2004) erleidet er als Konsequenz seiner Frauengeschichten einen Herzinfarkt.
Was wird bleiben von diesem Jack Nicholson, dem alten und dem jungen? Mit Sicherheit ein Grinsen. Als Symbol für eine nicht unproblematische, aber faszinierende Ikone der Freiheit.