Ein paar Alltagsfragen vorneweg, um sich dem Filmstar zu nähern. Paula Beer ist nicht auf Instagram. Schaut sie zumindest manchmal heimlich rein? „Ich wüsste gar nicht, was ich da angucken soll. Es interessiert mich einfach nicht.“ Was hat sie für ein Handy? „Ein Smartphone. Aber erst seit ein paar Jahren. Ich hatte noch ziemlich lange so eine alte Krücke.“ Wurde sie schon einmal abgelehnt bei einem Casting? „Natürlich, ganz oft. Das tut jedes Mal weh. Wenn man sich reindenkt, damit liebäugelt und dann kommt: Wir nehmen dich nicht.“ Und wann ist das zum letzten Mal passiert? „Letzte Woche.“
Kann man sich eigentlich nicht vorstellen, dass jemand Paula Beer zum Casting einlädt und dann sagt: Ne, sorry, nicht das, was wir suchen. Denn es fühlt sich manchmal so an, als hätte die gesamte deutsche Filmlandschaft sehr lange nach Paula Beer gesucht. Und sie dann endlich gefunden.
Sie ist 25 Jahre alt, in Mainz geboren, hat 2020 den Silbernen Bären der Berlinale als beste Darstellerin gewonnen und sich sehr schnell den Ruf als „neue Romy Schneider“ erspielt. Zuletzt war sie im Kinofilm „Undine“ zu sehen und in der Erfolgsserie „Bad Banks“. Aber mit biografischen Daten und Wikipedia-Fakten wird man dem Geheimnis von Paula Beer nicht auf die Schliche kommen. Wie also nähert man sich einer Schauspielerin, die nicht mal eine klassische Ausbildung hat und trotzdem zu den gefragtesten Darstellerinnen ihrer Generation gehört? Die eine gnadenlose Bankerin genauso überzeugend gibt wie eine verletzliche Kriegswitwe zu Beginn des vorigen Jahrhunderts?
Einen Film zu analysieren, ist das Eine. Die Handlung zu bewerten, die ästhetischen Voraussetzungen, die handwerkliche Umsetzung. Die Schauspieler zu beschreiben, ist etwas ganz anderes. Was ist das Besondere an dieser ganz bestimmten Person? Warum vergisst man das Gesicht der einen sofort wieder, während der Gang der anderen für immer im Gedächtnis bleibt? Es ist kaum in Worte zu fassen. Da bleibt es dann gerne bei nebulösen Begriffen wie „Aura“ oder „Präsenz“, die man beim Sehen spüre.
In Sekunden vom Mädchen zur Frau
Glaubt man dem Regisseur Christian Petzold, und das tun wir hier jetzt einfach mal, können Franzosen viel besser als Deutsche beschreiben, was eine Schauspielerin besonders macht. Also Frage an Petzold: Was würden die Franzosen zu Paula Beer sagen? Der befreundete französische Regisseur François Ozon, erzählt Petzold, habe ihm einmal gesagt, nachdem er mit Paula Beer den Film „Frantz“ gemacht hatte: Paula Beer könne innerhalb von einer Sekunde von einem Mädchen zu einer Frau werden und sofort wieder von einer Frau zu einem Mädchen. Das sei es.
Kann es denn so einfach sein? Aber tatsächlich – sieht man sich die Filme mit Paula Beer unter dieser Prämisse an, sieht man ständig einem Mädchen dabei zu, wie es erwachsen wird, und einer Frau dabei zu, wie sie das Kind in sich entdeckt. Dass Figuren sich innerhalb eines Films verwandeln, ist in jedem guten Drehbuch vorgesehen. Paula Beer verwandelt sich aber von einer Sekunde zur nächsten. Wie macht sie das?
Da ist zunächst mal – und Entschuldigung, wenn sich das jetzt etwas platt anhört – ihr Gesicht. Es ist auf eine altmodische Art schön. Keine langweilige Influencerinnen-Perfektion, vielmehr wie eine Landschaft, in der man immer etwas Neues entdeckt. Und die völlig unterschiedlich wirken kann, je nachdem, ob es regnet oder ob die Sonne scheint, ob es windet oder still ist. Im Grunde trägt Paula Beers Gesicht große Teile von „Frantz“. Schon zuvor hatte sie gute und große Rollen gehabt. Mit 14 übernahm sie die Hauptrolle im Kinofilm „Poll“ an der Seite von Edgar Selge. Sie spielte zu dem Zeitpunkt im Jugendensemble des Friedrichstadtpalastes in Berlin und in ihrer Schule kleine Theaterstücke. Vor der Kamera hatte sie da noch nie gestanden. Eine Castingagentin für „Poll“ entdeckte sie schließlich auf dem Schulflur und lud sie zum Vorsprechen ein – zusammen mit 2.000 anderen Bewerberinnen. Mit 18 zog sie für ein Jahr nach Paris und drehte mit Volker Schlöndorff, mit 19 spielte sie im österreichischen Western „Das finstere Tal“.
„Frantz“ aber war ihr internationaler Durchbruch. 2016 besetzte François Ozon Paula Beer als junge Witwe Anna, die ihren Mann, Frantz, im Ersten Weltkrieg verloren hat und nun im kleinen Ort Quedlinburg mit den Schwiegereltern lebt. Der Film ist hauptsächlich in Schwarz-Weiß gedreht. Paula Beer ist oft, sehr oft sogar, in Großaufnahme zu sehen. Sie ist erst 21, als sie das spielt, und man nimmt ihr das Witwendasein, den Schicksalsschlag, die Schwere der Welt total ab. Und dann: ein Lächeln, unverhofft, und sie wirkt auf einmal doch wie 21 oder eher noch wie 16. Die Schwere fällt ab, das Glück scheint für einen Herzschlag doch möglich. Dann zieht sich die Wolkendecke wieder zu.
Genau diese Fähigkeit, sagt Christian Petzold, war der Grund, warum er Paula Beer unbedingt für „Transit“ gewinnen wollte.
Paula Beer spielt Marie, die in Marseille auf ihren Mann wartet. Stattdessen trifft sie auf Georg, gespielt von Franz Rogowski, der sich als ihr Mann ausgibt. „Transit“, den ARTE im November ausstrahlt, basiert auf einem Roman von Anna Seghers; es geht um Deutsche, die vor den Nazis über Marseille nach Südamerika fliehen wollen. Petzold hatte den genialen Einfall, den Film in die Gegenwart zu versetzen, dabei aber Sprache und Handlung exakt wie im Original zu belassen. So entsteht eine merkwürdige Unzeit. Die Menschen packen große Lederkoffer und schreiben auf Schreibmaschinen. Die Fähre, die Marie am Ende besteigt, ist aber aus dem 21. Jahrhundert. Es ist die perfekte Rolle für Paula Beer. Modern und altmodisch zugleich.
Die Figur Marie ist ein Geist. Paula hat ihr eine Physis gegeben, indem sie durch den Film tanzt
Wenn sie Drehbücher lese, sagt Paula Beer im Interview, achte sie immer besonders auf die Szene, mit der eine Figur eingeführt wird. Der erste Auftritt von Marie: Georg steht an einer Straße und studiert eine Stadtkarte. Gefilmt von einer Überwachungskamera, in Schwarz-Weiß. Auf einmal läuft Marie durchs Bild. Sie rennt nicht, sie hüpft nicht. Und doch tut sie beides. Sie scheint kaum den Boden zu berühren. Sie tippt ihm auf die Schulter. Schnitt. Maries Gesicht in Großaufnahme, in Farbe, die pure Enttäuschung. Für die Dauer eines Blickes ist sie ganz da, hier und jetzt, ein Mensch aus Fleisch und Blut. Dann rennt, hüpft, gleitet sie davon. Auch das eine Verwandlung.
Beide, Paula Beer und Christian Petzold, sprechen oft vom Tanz, wenn man sich mit ihnen über „Transit“ unterhält. „Marie ist ein Geist. Paula hat daran gearbeitet, diesem Geist eine Physis zu geben, indem sie durch den Film tanzt“, sagt Petzold. An jedem Drehtag hätten Paula Beer und Franz Rogowski zwei oder drei Stunden Zeit gehabt, sich am Set auszuprobieren. Ohne Kamera, ohne Crew. Allein im Hotelzimmer, wo die Szene dann spielen sollte, um zu schauen, wie man sich am besten bewegt in diesem Raum. Erst zum Fenster, dann zum Bett, dann zum anderen Fenster. Sie weist ihn zurück, er kommt ihr nach, sie umarmen sich. Eine Tanzchoreografie. Deshalb, so Christian Petzold, hätten sie auch viel Text wieder streichen können. Weil er nicht mehr nötig war.
Auf eine solche Rolle bereitet sich Paula Beer akribisch vor. Sie sah sich unzählige Filme an, in denen Frauen allein durch Städte laufen. Bei „Fahrstuhl zum Schafott“, einem Schwarz-Weiß-Film der 1950er Jahre, fiel ihr auf, dass Jeanne Moreau ganz leicht die Lippen bewegt, während sie einsam durch Paris läuft. Sie spricht mit sich selbst. Der Gang als Monolog. Das übernahm Paula Beer bei ihren Gängen durch Marseille. Möglich, dass diese spezielle, schwerelose Physis daher kommt.
Jean-Luc Godard habe mal gesagt, so Christian Petzold, dass es zwei Arten von Regisseuren gebe: diejenigen, die über die Idee zur Emotion kommen. Und die, die über die Emotion zur Idee kommen. Paula Beer, sagt der Regisseur, sei nun eine Schauspielerin, die über die Idee zur Emotion komme. Erst die Reflexion, das Nachdenken, das Recherchieren, die Klarheit – dann der Tanz. Paula Beers Spiel ist keine Explosion, keine Ekstase, kein Um-sich-Greifen und Aus-sich heraus-Kehren. Es ist eher eine Implosion. Leise, zurückgenommen – und auf einmal weiß man nicht mehr, was gerade passiert ist.
Konflikte mal in Grün und mal in Gelb
Nachdem sie mit Mitte zwanzig im deutschen Film praktisch alles erreicht hat, sucht Paula Beer gerade eine neue Herausforderung – am Theater. In Basel spielt sie seit Oktober ein Stück, das passender nicht sein könnte für diese aus der Zeit gefallene Verwandlungskünstlerin – die „Metamorphosen“ von Ovid. Sie freut sich, dass sie jetzt noch mehr ausprobieren kann. „Der Film muss effizient sein, weil an jedem Drehtag so viel Geld hängt. Ich genieße es gerade wahnsinnig, mit den anderen Schauspielerinnen und Schauspielern rumzuspinnen und zu forschen.“ Vielleicht braucht sie den Wechsel, um den Spieß einmal umzudrehen – vom Tanz zur Idee.
Auf die Frage, was sie an den „Metamorphosen“ fasziniere, sagt sie dann noch so einen typischen Paula-Beer-Satz, für den man eigentlich viel länger gelebt und gelitten haben muss als nur 25 Jahre: „Es ist das Schöne und Armselige an der Menschheit, dass sie sich überhaupt nicht weiterentwickelt. Man hat ja immer die gleichen Konflikte. Nur, dass sie mal in Grün und mal in Gelb passieren.“
Ihr Lieblingsmythos aus den „Metamorphosen“ ist übrigens die Geschichte von Echo. Echo wird von Jupiter beauftragt, Juno Geschichten zu erzählen, um sie von seinen Liebschaften abzulenken. Juno kommt ihr auf die Schliche und bestraft Echo damit, fortan nur noch die Worte anderer zu wiederholen. Echo zieht sich ins Gebirge zurück, auf ewig verdammt, zu wiederholen, was wir ihr entgegenbringen. Nur schöner. Erhabener. Verändert. Verwandelt. Paula Beer, so scheint es, wenn man sie spielen sieht, ist das Echo unserer Sehnsüchte. Vielleicht ist das ihr Geheimnis.