Algerien und Frankreich wirken wie eine tragische Schicksalsgemeinschaft. Begründet 1830 mit der rücksichtslosen Kolonisierung des damals noch von den Osmanen beherrschten Nordafrikas, war sie mit der Unabhängigkeit Algeriens 1962 nach einem achtjährigen Krieg nicht zu Ende. Wie vielschichtig und komplex dieser Konflikt war, vermittelt die sechsteilige Dokureihe „Der Algerienkrieg“, die ARTE im März aus Anlass des 60. Jahrestags der Waffenstillstandsverträge von Évian sendet. Es greift zu kurz, die Entwicklungen und Verwerfungen bis zum heutigen Tag auf den mehr als 130 Jahre währenden Kolonialismus und eine simple Formel – hier die französische Täternation, dort die algerische Opfernation – zurückzuführen. Längst nicht alles lässt sich mit einem solchen Dualismus erklären: nicht die Versuche, im kolonialen Algerien eine friedliche kulturelle Begegnung im gegenseitigen Respekt zu gestalten. Nicht die Erfahrungen der Pieds-noirs, wie man die aus ganz Europa nach Algerien gegangenen Siedler nannte. Nicht die Erlebnisse der Rappelés, der französischen Wehrpflichtigen, die in ein wahres Inferno geschickt wurden. Und ebenso wenig die der als Verräter gebrandmarkten Harkis, der algerischen Angehörigen der französischen Hilfstruppen. All diese Schicksale sind nördlich und südlich des Mittelmeers erst in der jüngsten Zeit ins allgemeine Bewusstsein vorgedrungen.
Seinen Anfang nahm der Algerienkrieg im Jahr 1954. Viele Algerier hatten damals den Glauben an den friedlichen Kampf um Anerkennung und Autonomie innerhalb der kolonialistischen Ordnung verloren. Sie wollten mit Waffen statt Worten sprechen, gingen in den Untergrund und gründeten die paramilitärische „Organisation Spéciale“. Sie sammelten Munition, trafen sich heimlich in den Bergen der Kabylei und des Aurès und bereiteten sich auf den Kampf vor. Mit den sogenannten Allerheiligen-Anschlägen sah sich Frankreich mit einem neuen Gegner konfrontiert: der Nationalen Befreiungsfront (FLN). Der bewaffnete Konflikt mit ihr hatte rund 400.000 Tote zur Folge – darunter sehr viele Zivilisten. Er gilt als einer der blutigsten Kolonialkriege des 20. Jahrhunderts.
Nachdem Frankreich im Jahr 1962 seine Niederlage eingestehen musste, blendete das Land mit einer hastig verordneten Amnestie das Ausmaß von Folter und Vertreibung der algerischen Bevölkerung weitgehend aus. Bis heute fehlt eine unzweideutige Entschuldigung von Repräsentanten der Französischen Republik für die Kolonialverbrechen – aus einem falschen Patriotismus heraus, der historische Fehler nicht eingestehen mag, und aus Angst vor der extremen Rechten, die islamophobe Revanche-Gedanken beharrlich am Leben hält. Dabei sind die Menschen beider Länder über die seit Jahrzehnten in Frankreich lebende algerische Diaspora intensiv miteinander verbunden.
Beide Seiten des Mittelmeers leiden außerdem unter islamistischem Terror – auch das eine Langzeitfolge der zu wenig aufgearbeiteten Vergangenheit. Einen selbstreflexiven und schonungslosen Dialog könnte der von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron beauftragte Bericht zur Erinnerungskultur („rapport Stora“) aus der Feder des im algerischen Constantine geborenen Historikers Benjamin Stora eröffnen. Dazu müsste das autokratische Regime Algeriens, das seit 2019 von einer jungen Demokratiebewegung, dem sogenannten Hirak, herausgefordert wird, allerdings das Angebot annehmen.
Deutschland im Reparationsdreieck
Dass sich zwei Nationen ihre Erbfeindschaft verzeihen können, haben Deutschland und Frankreich nach 1945 mit vielen Initiativen bewiesen, die vor allem auf zivilgesellschaftlichen Fundamenten beruhen. Dieser im Stora-Bericht aufgegriffene Akzent ist im algerisch-französischen Verhältnis noch zu wenig entwickelt. Bei der angestrebten Reparatur der Beziehungen könnte Deutschland eventuell als dritter Partner behilflich sein. Gab es doch um 1960 – in den Anfängen der deutsch-französischen Aussöhnung – „Kofferträger“ genannte deutsche Unterstützer der algerischen Befreiungsbewegung. Zudem kamen Arbeitsmigranten in beide deutsche Staaten. Auch die aktuellen Herausforderungen der Mittelmeerpolitik von der Migration bis zur transnationalen -Energie- und Sicherheitspolitik wären weit besser zu bewältigen, wenn EU-Länder in ein Reparationsdreieck einbezogen würden. Die materielle Wiedergutmachung ist dabei ebenso wichtig wie die Heilung historischer Wunden.