Als Amos Oz Ende 2018 mit 79 Jahren starb, öffneten die israelischen Sender ihre Archive und stellten eine Reihe bis dato unzugänglicher Interviews online. Die ältesten reichen bis 1964 zurück und wurden noch in Oz’ Eineinhalb-Zimmer-Wohnung im Kibbuz Hulda aufgezeichnet; die jüngsten entstanden wenige Monate vor seinem Tod in Tel Aviv. Wenn man sie sich nacheinander ansieht, begegnet man einem Mann, der mit Mitte 20 fast schon genauso weise wirkt wie mit Mitte 70.
Genauso in sich ruhend, genauso charismatisch, genauso eloquent. Einem, der sich der Kraft seiner Worte bewusst ist und sie so sorgfältig setzt, als prüfe er sie nebenbei auf Zitiertauglichkeit. Vor allem eine Formulierung wiederholt sich über die Jahre immer wieder, bisweilen wortwörtlich: „Wenn jemand Schriftsteller wird, dann deshalb, weil man ihm in der Kindheit eine Wunde zugefügt hat. Nicht jeder, der so eine Wunde mit sich herumträgt, entwickelt sich zum Autor. Mancher wird aus dem gleichen Grund zum Mörder oder zum Heiligen. Aber die Wunde ist unerlässliche Voraussetzung des Schreibens.“
Amos Oz’ Wunde war der Selbstmord seiner Mutter, daran ließ er keinen Zweifel. Vor allem litt er darunter, dass sie ohne einen Abschiedsbrief aus dem Leben geschieden war und ihm damit die Chance genommen hatte, ihre Beweggründe zu begreifen. Er selbst erklärte sich die Tat nicht zuletzt mit den hochfliegenden Träumen, mit denen seine Mutter ins noch vorstaatliche Israel gekommen war – und ihrer tiefen Enttäuschung über die Realität, die dem Ideal nicht hatte standhalten können. Vor allem sei sie nie in der Lage gewesen, die schmerzliche Wahrheit auszusprechen. In „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“, seinem autobiografischsten Roman, legt der Erzähler der Mutter eine Aussage in den Mund, die symptomatisch für ihre Haltung sein dürfte: Es sei besser, zu schweigen, als jemanden zu verletzen.
Es ist eine Haltung, die Oz für sich ablehnte. Er selbst verstand sich als Autor, der dahin geht, wo es wehtut – in seinen literarischen Werken genauso wie in seinen politischen Texten. Die Enttäuschung über die israelische Realität war dabei auch ihm nicht fremd. Nachdem er selbst als Soldat im Sechs-Tage-Krieg 1967 gekämpft hatte, war er ein entschiedener Gegner der daraus resultierenden Besatzung – und zögerte nicht, diese Kritik auch zu äußern. Gleichzeitig fand er klare Worte, wenn es darum ging, Israel gegen ungerechtfertigte Vorwürfe zu verteidigen, verfügte noch über die immer seltener werdende Fähigkeit, zwei vermeintlich widersprüchliche Gedanken in sich aushalten zu können.
Damit machte er sich genauso Freunde wie Feinde. Die einen riefen zum Boykott seiner Bücher auf und nannten ihn einen Verräter – ein Vorwurf, an dem Oz mit den Jahren durchaus Gefallen fand. Andere bezeichneten ihn als Stimme des Humanismus, als moralischen Kompass, als Gewissen Israels – womit er sich deutlich schwerer tat. In der Dokumentation „Das vierte Fenster“, die ARTE im Oktober zeigt, spricht die Autorin Nicole Krauss davon, wie sehr Oz seine Vorbildrolle belastet habe: „Es steht außer Frage, dass er sich enorm unter Druck setzte, ständig gut, anständig, gerecht zu sein. Für Künstler ist das schwierig. Sie brauchen auch die Freiheit, keine guten Menschen zu sein, um die dunkleren Seiten auszuloten.“
Ein gewalttätiger Vater, sagt die Tochter
Tatsächlich sagt Oz’ Tochter Galia, die in Israel ebenfalls als Schriftstellerin bekannt ist, fast das Gleiche – nur hängt sie noch einen Satz an: Ihr Vater habe sich so schwer mit dieser Rolle getan, dass er ein Ventil gebraucht habe – und das sei gewesen, sie körperlich und verbal zu misshandeln. „In meiner Kindheit hat mich mein Vater geschlagen, beschimpft und erniedrigt“, lautet der erste Satz ihrer Autobiografie, die unlängst Schockwellen in Israels Medienlandschaft auslöste. Tagelang gab es kaum ein anderes Thema. Die beiden anderen Oz-Kinder erklärten, sie würden sich an einen anderen, liebenden Vater erinnern, alte Weggefährten tourten durch die Talkshows, Galia Oz wurde als Nestbeschmutzerin beschimpft.
Dann meldete sie sich mit einem Fernsehinterview zu Wort. Die Frau, die man darin sah, wirkte ruhig, charismatisch, eloquent, vor allem aber schien sie erleichtert: „Die Wahrheit so lange zu verschweigen – das tat mehr weh als alles, was jetzt kommt.“ Was man denn nun tun solle, fragte die Interviewerin. „Müssen wir den Autor Amos Oz neu denken?“ Nein, antwortete Galia Oz, der Autor sei derselbe, aber der Mensch Amos Oz sei eben auch: ein gewalttätiger Vater. Man könne beides denken. Das gehe. „Ihr haltet das schon aus.“