Screentime? So etwas gibt es bei Familie Fabritius nicht, weil Bildschirme im Alltag der Kinder kaum eine Rolle spielen. Nur der älteste Sohn darf seinem Hobby online nachgehen und virtuell Schach spielen. Telefone werden an ihn und seine vier Geschwister – allesamt im Vorschul- oder Grundschulalter – nur verteilt, wenn es ihrer Sicherheit dient. Einmal pro Woche gibt es einen gemeinsamen Fernsehabend, wobei nur die Kinder den Familienfilm komplett sehen dürfen, die während der Woche sieben Chips gesammelt haben. Wer abends sein Zimmer aufgeräumt hat, erhält einen Chip. „Das funktioniert super. Und wir haben auch kein Gezanke um Smartphones und Tablets“, sagt die fünffache Mutter Friederike Fabritius. Die Neurowissenschaftlerin und Autorin von Bestseller-Sachbüchern wie „Neurohacks“ (2021) und „Flow@Work“ (2022) liest allein aus beruflichen Gründen stets aktuelle Studien zum Thema Digitalisierung. Das daraus resultierende Wissen wendet sie direkt in der eigenen Familie an. Sie ist überzeugt: „Computer, Tablets und Smartphones wirken auf Kinder wie Drogen. Natürlich sind sie die besten Babysitter, weil die Reizüberflutung ruhigstellt. Aber wer setzt seine Kinder schon freiwillig unter Drogen?“
Tatsächlich belegen immer mehr Forschungsergebnisse, dass der Einfluss von internetfähigen digitalen Medien auf das Belohnungssystem des Menschen so groß ist, dass sich Suchtverhalten häuft. Wie eine ARTE-Dokumentation im Juni zeigt, spielt der Neurotransmitter Dopamin dabei die wohl wichtigste Rolle. Der Botenstoff leitet Signale zwischen den Nervenzellen weiter und steuert sowohl emotionale und geistige wie auch motorische Reaktionen. Messbare Auswirkungen hat die Technik zudem auf Gehirnareale, die für die Aufmerksamkeit und Impulskontrolle zuständig sind. „Was mich stutzig gemacht hat: Die Daten von unglücklichen und zum Teil hyperaktiven oder depressiven Kindern und Jugendlichen korrelieren sehr stark mit der Zeit, die sie mit digitalen Medien verbringen“, sagt Fabritius im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Was viele Eltern nicht wüssten: Die ständigen Dopamin-Trigger, denen ihre Kinder in der digitalen Welt ausgesetzt seien, könnten langfristig zu einer sogenannten Anhedonie führen, der Unfähigkeit, Freude und Lust zu empfinden. „Nutzen Kinder und Jugendliche digitale Medien zu häufig, erscheinen Beschäftigungen, die keinen sofortigen Dopaminschub auslösen, oft als langweilig oder sinnlos – etwa das Erlernen eines Musikinstruments, Spazierengehen oder Zeit mit Freunden. Das ist gefährlich für die persönliche Entwicklung.“
Weil fast alle Jugendlichen mit Zugang zu Tablet und Smartphone über soziale Netzwerke kommunizieren, legen Forschende ihren Fokus verstärkt darauf. Dabei zeigen jüngste Untersuchungen zwar, dass sich digitale Likes, Flammen oder Herzchen, die man auf Instagram, TikTok, Facebook & Co. erhält oder eben nicht erhält, die Hirnaktivität anregen und über den Dopaminhaushalt Einfluss auf das psychische Wohlbefinden haben. Unklar bleibt aber, ob die Auswirkungen Jugendlichen wirklich schaden – oder langfristig vielleicht sogar nutzen. So hat eine kürzlich im Fachjournal JAMA Pediatrics veröffentlichte Langzeitstudie mithilfe von MRT-Messungen an Jugendlichen nur nachgewiesen, dass soziale Netzwerke einen „Trainingseffekt“ im Gehirn zur Folge haben. Offen blieb, ob dieser sich wieder zurückbildet, wenn das Interesse an den digitalen Plattformen nachlässt, und welche Vor- oder Nachteile sich für die Teenager ergeben.
LETZTES MITTEL: KALTER ENTZUG
Friederike Fabritius ist sich bewusst, dass Forschung und Gesetzeslage zum Dauerkonsum digitaler Medien dem tatsächlichen Gebrauch hinterherhinken. Eltern sollten sich aber nicht allein auf die Politik verlassen, findet sie. Sie müssten sich selbst im Klaren sein, dass überflüssiger und ausufernder Konsum, egal ob digital oder in Form von Spielsachen oder Süßigkeiten, Gift für das Dopaminsystem von Kindern sei – und schützende Regeln durchsetzen. „Dass wir in einer Massenkonsum- und Wegwerfgesellschaft leben und Eltern oft dauergestresst von Job und Familie sind, erschwert das natürlich.“
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) hat ihre Empfehlungen für die Obergrenze der Medienzeit für Kinder und Jugendliche in Alterskategorien gestaffelt: Unter Dreijährige sollten demnach überhaupt keine digitalen Bildschirme nutzen. Für Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren wird höchstens 30 Minuten Screentime pro Tag empfohlen, für Grundschüler höchstens 45 bis 60 Minuten pro Tag. Fabritius rät dagegen, den täglichen Gebrauch von digitalen Medien bei Kindern zu vermeiden: „Die Gefahr, dass sich die Kinder an die ständigen digitalen Reize gewöhnen und Suchtverhalten entwickeln, ist sonst größer als der Nutzen.“ Sollten Kinder oft vor Zorn toben, wenn man ihnen Tablet oder Smartphone verwehrt, hilft laut der Neurowissenschaftlerin nur eins: kalter Entzug. „Nach drei bis vier Wochen sollte sich das Gehirn wieder normalisiert haben und ohne Digitales können.“