Ob Taliban in Afghanistan, Dschihad-Kämpfer in Syrien oder die weit verstreuten Anhänger des sogenannten Islamischen Staates (IS): Radikal-islamistische Gruppen wollen ihre menschenverachtende Ideologie mit Gewalt verbreiten. Auch Deutschland sei davor nicht sicher, sagt Guido Steinberg, Islamexperte bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, im Interview.
ARTE Magazin Herr Steinberg, die jüngste bundesweite Großrazzia gegen mutmaßliche Islamisten liegt erst zwei Monate zurück. Sieben Personen wurden wegen des Verdachts der Unterstützung des sogenannten Islamischen Staates inhaftiert. Dabei galt die Terrororganisation längst als besiegt. Wie bedrohlich ist der IS heute?
GUIDO STEINBERG Militärisch wurde der IS im Irak und Syrien zwar 2019 geschlagen. In einigen Ländern – etwa in Ägypten, Somalia, Mosambik, in Pakistan und Afghanistan – ist die Organisation aber nach wie vor präsent. Zehntausende ihrer Anhänger kämpfen dort gegen die Regierungen, gegen konkurrierende Islamisten – und gegen die Länder des Westens.
ARTE Magazin Die Warnung von Generalbundesanwalt Peter Frank, Deutschland sei im Visier von Dschihadisten, ist also berechtigt?
STEINBERG Absolut. Man darf nicht vergessen, dass es in Europa Tausende Anhänger dschihadistischer Gruppen gibt. Sie werden weiterhin versuchen, auch hierzulande Terroranschläge zu verüben.
ARTE Magazin Verfassungsschutz-Chef Thomas Haldenwang sprach kürzlich von einer akuten Bedrohungslage durch den IS-Ableger Provinz Khorasan (ISKP). Was macht die Gruppierung so gefährlich?
STEINBERG Der ISKP will seiner Mutterorganisation den Rang ablaufen. Unter den Dschihad-Gruppen zeigt er derzeit den größten Ehrgeiz, in der westlichen Welt Anschläge zu verüben. Vor allem Menschen aus süd- und zentralasiatischen Ländern gehören dem ISKP an, etwa aus Afghanistan, Pakistan, Usbekistan und Tadschikistan. Womöglich ist das der Grund, weswegen die Organisation in Deutschland und Österreich meines Wissens relativ viele Anhänger hat. Denn bei uns und in Österreich leben seit 2015 Tausende unter anderem aus zentralasiatischen Ländern geflüchtete Menschen. Und einige von ihnen zeigen eine durchaus hohe Affinität zur Ideologie des IS.
ARTE Magazin Zum politisch-religiösen Salafismus?
STEINBERG Genau. Er liefert einfache Antworten auf komplexe Fragen und bietet jungen Muslimen Orientierung. Hinzu kommt, dass deren Integration in westlichen Ländern oft ausbleibt, auch weil aus manchen Regionen große homogene Gemeinschaften nach Europa einwandern, deren Mitglieder meist unter sich bleiben. Zudem sind viele dieser Menschen geflüchtet, da sie in ihrer Heimat Krieg und Gewalt erlebt haben, deren Ursachen sie oft im Westen verorten. Aus meiner Sicht ist es daher kein Zufall, dass viele Anschlagsplanungen in den vergangenen Jahren nicht auf deutsche Rückkehrer aus dem Bürgerkrieg in Syrien zurückgehen, sondern auf Geflüchtete, die erst kurz zuvor in Deutschland angekommen waren.
ARTE Magazin Diese Einschätzung, die Sie in Ihrer 2021 erschienenen Studie „Dschihadismus in Deutschland“ mit Zahlen untermauert haben, widerspricht der gängigen Sichtweise im politischen Berlin.
STEINBERG Klar ist: Wir haben es mit einer Randerscheinung zu tun – vermutlich insgesamt mit einigen Hundert Personen. In Politik und Öffentlichkeit gab es gleichwohl stets die Befürchtung, dass Deutsche in Syrien Erfahrungen im bewaffneten Kampf gesammelt haben und nach ihrer Rückkehr Anschläge bei uns verüben. Das ist ein Irrtum und meines Wissens in Deutschland nie passiert. Auch europaweit sind solche Fälle sehr selten. Bei der Rekrutierung für terroristische Anschläge in Europa sind tatsächlich zwei Gruppen im Visier der Salafisten: zum einen nicht oder schwach integrierte Jugendliche mit oder ohne Migrationshintergrund, zum anderen Menschen, die aus Syrien, Afghanistan oder Zentralasien nach Deutschland gekommen sind und sich hier radikalisiert haben.
ARTE Magazin Die Radikalisierung geschieht nicht automatisch. Wie können Behörden und Gesellschaft denn sinnvoll gegensteuern?
STEINBERG Da wurde in den vergangenen Jahren bereits viel getan, etwa bei den Moscheen. Viele radikale Prediger sitzen heute hinter Gittern. Auch die Screenings bei der Einreise wurden verschärft. Wir sollten aber noch genauer hinschauen, wer zu uns kommen will. Man kann durchaus eine Willkommenskultur pflegen und dennoch in Sicherheitsfragen verantwortungsbewusst handeln.
ARTE Magazin Lässt sich die Rekrutierung von neuen Attentätern denn überhaupt verhindern?
STEINBERG Weitgehend, aber nicht vollständig. Das liegt daran, dass die Rekrutierung mittlerweile oft über Social-Media-Kanäle läuft, die schwer zu überwachen sind. Die Anschlagplaner sitzen zwar oft in Syrien oder Afghanistan, aber die Attentäter leben nicht dort, sondern bei uns. Darauf müssen sich die Sicherheitsbehörden einstellen.
ARTE Magazin Welche weiteren Hindernisse gibt es?
STEINBERG Da sie kaum Befugnisse und nicht die nötige Technik haben, sind die deutschen Sicherheitsbehörden mit dem Phänomen der virtuell geführten Attentäter überfordert. Sie wurden daher bei vielen Antiterroreinsätzen der vergangenen Jahre stets erst dann aktiv, nachdem Geheimdienste aus den USA oder Großbritannien sie alarmiert hatten. Kurzfristig lässt sich das nicht ändern; der technische und finanzielle Aufwand der Aufrüstung wäre immens. Wir sind vorerst auf unsere Verbündeten angewiesen.
ZUR PERSON
Guido Steinberg, Terrorismusexperte
Der promovierte Islamwissenschaftler ist seit 2005 in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin tätig.