Die Handlung ist überschaubar: Außerirdische landen im Rahmen einer Forschungsmission mit ihrem Raumschiff in der Nähe von Los Angeles. Menschen mit Taschenlampen stören ihre wissenschaftliche Arbeit. Außerirdische ergreifen die Flucht. Einer wird aus Versehen zurückgelassen. Ein Junge nimmt sich des verlorenen Außerirdischen an. Junge und Außerirdischer werden Freunde. Außerirdischer will nach Hause. Außerirdischer kehrt nach Hause zurück. Tränen fließen, Schlussmusik erklingt.
Nach den Blockbustern „1941 – Wo bitte geht’s nach Hollywood?“ (1979) und „Jäger des verlorenen Schatzes“ (1981) war Steven Spielbergs sechster Kinofilm „E.T. – Der Außerirdische“ vor 40 Jahren eine vergleichsweise kleine Produktion für den Regisseur. Das Budget: lediglich 10,5 Millionen US-Dollar. Es gab keine Stars, keine nennenswerte Action und keine interessanten Kulissen. Die Hauptrollen spielten ein Zehnjähriger, eine Sechsjährige und eine ferngesteuerte Puppe. Auf dem Papier betrachtet war „E.T.“ ein Science-Fiction-Film für Kinder. Nicht viel mehr. Man darf annehmen, dass die kommerziellen Erwartungen an das Werk nicht allzu hoch gesteckt waren. Doch als „E.T.“ am 26. Mai 1982 als Abschluss der Filmfestspiele von Cannes gezeigt wurde, war bereits zu erahnen, dass es hier um mehr ging. Das Premierenpublikum, zu dem mutmaßlich nur wenige Kinder zählten, wollte gar nicht aufhören, den Film zu feiern. 50 Minuten lang gab es stehende Ovationen. Fast ein bisschen zu lang für den damals 35-jährigen Spielberg. Er musste sich zwischendurch immer wieder mal kurz setzen.
SPIEGEL DER EIGENEN KINDHEIT
Anlässlich des 40. Jubiläums begibt sich die Dokumentation „,Nach Hause telefonieren!‘ Wie E.T. Kinos und Herzen eroberte“ nun auf Spurensuche. Wie entstand das 115 Minuten dauernde Werk? Was bedeutete es für Spielberg, was für die Zuschauer? Und wie kam es eigentlich zu dem sagenhaften Erfolg? Zehn Jahre lang war „E.T.“ der erfolgreichste Film aller Zeiten, bis Spielberg „Jurassic Park“ (1993) drehte und der freundliche Außerirdische der übermächtigen Konkurrenz der 3D-animierten Dinosaurier schließlich unterlag.
Für Spielberg stellte „E.T.“ vor allem eine Herzensangelegenheit dar. Mit einem Drehbuch der Autorin Melissa Mathison spiegelte der Film seine eigene Kindheit. Aufgewachsen in einer Vorstadt in Arizona zwischen einem emotional distanzierten Vater und einer überforderten Mutter, erkannte er sich in Elliott wieder, dem einsamen Jungen, der durch die Trennung seiner Eltern den Boden unter den Füßen verloren hatte. Während Spielberg seiner Lage mit Fantasie begegnete und bereits mit zwölf Jahren anfing, Filme zu drehen, kümmert sich der zehnjährige Elliott (Henry Thomas) ganz pragmatisch um einen gestrandeten Alien – wobei der Film sich wenig Mühe gibt, E.T. eine auch nur ansatzweise glaubwürdige intergalaktische Identität zu verpassen. Stattdessen ist der Außerirdische eher eine Metapher fürs Überirdische. Ausgestattet mit allerhand magischen Fähigkeiten landete er in einem Raumschiff auf der Erde, das an eine Christbaumkugel erinnert.
Zwar ist „E.T.“ ohne Zweifel ein waschechter Familienfilm, der nicht nur im Kino seinen Zauber entfaltet, sondern vor allem auch vor dem heimischen Fernseher – in den 1980ern noch das Lagerfeuer jedes Haushalts. Aber als vollgültiger Weihnachtsfilm gilt er nicht, weil die Handlung um Halloween herum angesiedelt ist und er in den USA bereits im Sommer 1982 in die Kinos kam. Da der Rest der Welt aber bis zur Festtagssaison warten musste, drängt es sich geradezu auf, ihn näher auf seine Weihnachtstauglichkeit hin zu überprüfen. Zentrales Motiv des Films ist der Wunsch, nach Hause zurückzukehren oder zumindest zu Hause anzurufen, was weihnachtlicher eigentlich kaum sein könnte: „E.T. phone home“, sagt er aufgeregt im Original und zeigt mit seinem knochigen Finger zu den Sternen. „Nach Hause telefonieren“, ganz egal wie dysfunktional die Situation daheim auch sein mag. Dank E.T.s Sehnsucht nach seinem Heimatplaneten lernt Elliott auch, wieder sein eigenes Zuhause zu schätzen, wie er durch ihn überhaupt Zugang zu seinen Gefühlen findet. Plötzlich spürt der Junge eine Verbundenheit zu seiner Umwelt und ist voller Empathie, mit der E.T. ihn erfüllt hat.
Insgesamt 33 Parallelen gebe es zwischen Jesus und E.T. , heißt es in der Dokumentation – wovon die Fähigkeit, mittels Handauflegen zu heilen, und das leuchtende Herz, das man aus ikonografischen Jesus-Darstellungen kennt, schon mal zwei sind. Eine dritte wäre E.T.s Auferstehung, wobei er nicht drei Tage lang tot ist, sondern vielleicht drei Minuten, was aber ausreicht, um Elliott – und mit ihm auch die Zuschauer – an den Rand emotionaler Ausnahmezustände zu bringen.
Sowieso kann man sich keinen besseren Elliott als Henry Thomas vorstellen. In seinem Gesicht spielen sich während des zweistündigen Films ganze Dramen ab. In der Dokumentation sieht man den wunderbaren Ausschnitt eines Castingvideos, in dem Spielberg mit Thomas eine Szene improvisiert, in der er ihm erklärt, dass er ihm E.T. wegnehmen müsse. Binnen einer Minute spielt Thomas von Ablenkung über Wut zu Verzweiflung alle möglichen Gefühle durch. „Okay, Kleiner, du hast den Job!“, sagt Spielberg dann zu ihm, worauf Thomas sich zufrieden die Tränen aus den Augen wischt.
Für Drew Barrymore als Elliotts kleine Schwester Gertie entschied sich Spielberg wiederum, als sie ihm beim Vorsprechen mit voller Überzeugung erklärte, dass sie mit ihren sechs Jahren die Sängerin einer Punkband sei – eine Qualifikation, die ihr in der Szene, in der E.T. und Gertie sich gegenseitig anschreien, möglicherweise sehr zugutekam. Thomas und Barrymore sind die Stars des Films – neben E.T. natürlich, der im Vergleich zu seinen menschlichen Kollegen allerdings recht ausdrucksschwach ist: die Lider über den großen Augen meist auf Halbmast, ein seltsam hydraulischer Hals, schwerer Faltenwurf sowie ein unbeholfener Watschelgang. Von welchem fernen Planeten er auch angereist sein mag, die technische Entwicklung muss dort derart fortgeschritten sein, dass körperliche Fitness darüber offenbar ins Hintertreffen geraten ist. Für Carlo Rambaldi, der für die Gestaltung von E.T. verantwortlich war, lautete die Regieanweisung jedenfalls: „Bitte hässlich, aber für die Dauer des Films nett anzusehen!“ Tatsächlich wollten ihn die Leute auch nach Filmende immer weiter anschauen, weshalb allein 1982 zur Weihnachtssaison 15 Millionen E.T.-Puppen über den Ladentisch gingen. Bis 1998 wurden mit Merchandise-Artikeln zum Film eine Milliarde US-Dollar umgesetzt.
CINEASTISCHE EFFIZIENZ
Wenn es um Spielbergs Arbeiten geht, lautet eine häufig geäußerte Kritik, dass sie manipulativ seien, um bei den Zuschauern exakt den Effekt zu erzielen, den sich der Regisseur vorher genau überlegt hat. Abgesehen davon, dass man davon ausgehen darf, dass sich hoffentlich alle Regisseure beim Schreiben, Inszenieren, Drehen und Schneiden ihrer Filme darüber Gedanken machen, was sie mit ihnen erreichen wollen, ist „E.T.“ ein Musterbeispiel an cineastischer Effizienz.Von dem Moment an, an dem Elliott und E.T. sich begegnen, ist praktisch jede Szene darauf ausgelegt, die enge Verbindung zwischen den beiden zu betonen. Die welke Blume, die wieder erblüht, weil sie als Symbol ihrer Freundschaft dient, die Szene, in der sie vor dem Mond vorbeifliegen, Elliott auf dem BMX-Bike, E.T. vorn im Fahrradkorb mit dem Tuch über dem Kopf. Wie so oft in Spielbergs Filmen trägt der Soundtrack von John Williams dazu bei: Werden zunächst nur Melodiebögen angetäuscht, geht er zum Schluss in die Vollen. Der Film endet mit einem viertelstündigen Orchesterstück, das keine Fragen offen lässt. Langsam hebt E.T. seinen Finger an Elliotts Stirn, wo seine Fingerkuppe plötzlich hell erleuchtet. „Ich werde hier sein“, sagt er, bevor er ins Raumschiff steigt und nach Hause fliegt. Da bleibt kein Auge trocken. Auch nicht 40 Jahre später.