Die Realität kommt ihm nicht immer abhanden. Im Gegenteil: Es gibt Momente, in denen der demente Verleger Curt (Günther Maria Halmer) alles wieder ganz klar sieht. Dann wird ihm bewusst, in welche schmerzhafte Abhängigkeit ihn seine Krankheit, die Demenz, gebracht hat und was ihm verloren gegangen ist. „Vielleicht hat es die Natur ganz gut eingerichtet“, sagt er in einem solchen Moment zu seiner Pflegerin Marija (Emilia Schüle), „dass die Eichhörnchen verhungern, wenn sie vergessen, wo sie ihre Vorräte vergraben haben.“ Schließlich vergessen nicht nur die Tiere ihre Verstecke, auch er selbst kann sich vieles nicht mehr merken: ob er den Herd ausgeschaltet hat, wann es Mittagessen gibt und dass seine Frau schon lange tot ist.
In ihrem Kinodebüt haben Nadine Heinze und Marc Dietschreit ein Kammerspiel inszeniert, das Tragik und Komik verbindet. Curts Kinder, die kontrollsüchtige Almut (Anna Stieblich) und der zynische Geschäftsmann Philipp (Fabian Hinrichs), suchen für den Vater nach einer 24-Stunden-Pflegerin. Ihre Fürsorge ist letztlich eigennützig – schließlich soll die billige Arbeitskraft nicht nur Pflege- und Hausarbeit erledigen, sondern hierdurch auch die Konflikte entschärfen, die in der Familie gären. Doch die Rechnung geht nicht auf: Marijas Anwesenheit führt stattdessen zu einer absurden Zuspitzung der Situation.
Marija gibt ihr Bestes, hat aber in heimlichen Zigarettenpausen Sehnsucht nach ihrem kleinen Sohn, den sie bei der Großmutter gelassen hat. Und sie sieht sich dem Machtgebaren der Geschwister ausgeliefert. Curt blüht unterdessen auf: Durch ihre Fürsorge ist Marija seiner Wahrnehmung nach schleichend zu seiner verstorbenen Ehefrau Marianne geworden. Ihr will er nun all die Aufmerksamkeit widmen, die er als einstiger Patriarch seiner Frau nicht geschenkt hatte. Und Marija? Aus Sorge um ihre Stelle und aus Sympathie zu Curt spielt sie das Spiel mit und lässt sich auf eine Zeitreise in sein Luxusleben in den 1970er Jahren ein. Diese Neuauflage der Vergangenheit und die Tücken der Krankheit rütteln weiter am Familiengefüge.
Verlust und Verfall
Der Verlust des Realitätsbezugs und eine Verschlechterung der geistigen Fähigkeiten sind typische Symptome der Krankheit Demenz, von der in Deutschland rund 1,6 Millionen Menschen betroffen sind. Hervorgerufen werden die Beschwerden durch das Absterben von Nervenzellen im Gehirn. Die Ursachen sind noch nicht vollständig erforscht. Zunächst ist meist das Kurzzeitgedächtnis betroffen: Die Erkrankten vergessen Termine, wissen nicht mehr, wo ihr Auto steht. Später werden auch Worte vergessen, Menschen, Teile der eigenen Geschichte. Alles, was die Person ausgemacht hat, verschwindet nach und nach. Es blitzt höchstens noch auf, in wenigen lichten Momenten. Der Krankheitsverlauf ist langwierig und häufig verbunden mit Aggression oder Depressionen. Oftmals wird eine häusliche 24-Stunden-Versorgung nötig.
Die durch Angehörige und über Agenturen organisierte Betreuung wird zumeist von Frauen geleistet. Ein großer Teil von ihnen stammt aus dem osteuropäischen Ausland und hat keine Ausbildung zur Pflegerin. Sie machen ihren Job unter schlechten Bedingungen, arbeiten bisweilen ohne Pausen und ohne freie Tage zu geringem Lohn. Die Pandemie und die Debatte über die Pflegekrise haben ihre Situation stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Auch vor diesem Hintergrund gab es im Juni 2021 ein wegweisendes Urteil des Bundesarbeitsgerichts: Seither haben ausländische Pflegekräfte Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn und müssen auch für Bereitschaftszeiten bezahlt werden. An klaren Regularien für ihre Arbeitsbedingungen und entsprechenden Kontrollen mangelt es jedoch weiterhin. Der Ukraine-Krieg könnte die Situation nun noch verschärfen: Experten fürchten, dass ukrainische Geflüchtete aus der Not heraus noch prekärere Arbeitsbedingungen hinnehmen und Arbeitskräfte aus Polen oder Rumänien verdrängen könnten.
„Die Vergesslichkeit der Eichhörnchen“ greift die wichtige Pflegedebatte im Subtext des Films auf. Sie zeigt sich in den Stereotypen, in denen die Kinder des Erkrankten denken, und dem Machtgefälle, das entsteht. Trotz des ernsten Hintergrunds durchzieht den Film aber auch eine groteske Komik. Dabei war es den Regisseuren wichtig, keine „typische Demenz-Komödie“ zu zeigen, welche die Krankheit ins Lächerliche zieht, wie sie in einem Interview mit rbb Kultur erklärten. Stattdessen entsteht der Witz des Films aus dem allzu menschlichen Handeln der Figuren und dem gekonnten Spiel mit Klischees.
Der Witz des Films entsteht, weil prototypische Charaktere aufeinanderprallen