»Ein neues Leben«

SINNSUCHE Junge Großstädter, die mit Hingabe Felder umpflügen? Sieht man in der ostdeutschen Provinz zuhauf. Warum, erklärt Filmemacherin Lola Randl.

Foto: Urban Zintel

Von Berlin aus geht es auf der A11 Richtung Nordosten, dann über die Landstraße, die hier, in der Uckermark, nicht einmal mehr einen Mittelstreifen hat. In Gerswalde, einem 1.500-Seelen-Nest mit imposanter Kirche, ist es an diesem Freitagvormittag menschenleer. Kaum zu glauben, dass sich dort an Sommerwochenenden junge Leute aus aller Welt drängeln. Ihr Ziel: der große Garten. So hat die Filmemacherin ­Lola Randl, 39, die ehemalige Schlossgärtnerei in der Dorfmitte getauft, die sie zusammen mit Freunden zu einem Refugium für Städter auf Sinnsuche umgestaltet hat. Ihre Erfahrungen hat sie – mit sanftem Spott und soziologischem Überbau – in dem Film „Der große Garten“ dokumentiert, den ARTE im August zeigt. Ein Gespräch über Schafzucht, Selbstinszenierung und die Sehnsucht nach Verwurzelung.

ARTE MAGAZIN Sie leben seit zehn Jahren in Gerswalde. In Ihrem Film geht es um Lebensglück, Liebeswirren, Enttäuschungen – ein bisschen wie in einer Soap Opera. In welcher Folge sind Sie jetzt?
Lola Randl Auf jeden Fall schon weit in den Tausendern. Das Dorf eignet sich ja sehr gut dafür. Auf der einen Seite sind die Einheimischen, der Schönheitssalon und der Dorfsupermarkt. Und auf der anderen Seite sind wir, die neu Hinzugezogenen. Ich hatte ja am Anfang Probleme, Leute nach Brandenburg zu locken, deswegen hatte ich überlegt, was sie hier arbeiten könnten. Eine laufende Soap-Opera-Produktion wäre perfekt gewesen, mit Autoren, Schauspielern, Maskenbildnern …

ARTE MAGAZIN Stattdessen haben Sie gemeinsam mit Freunden aus einer im Barockstil angelegten Gärtnerei aus dem 19. Jahrhundert ein Ausflugsziel für stadtmüde Hipster gemacht. Wie kam es dazu?
Lola Randl Ich hatte eine gewisse Sehnsucht nach dem Dorf, denn ich bin selbst auf dem Land in einer Art Kommune aufgewachsen. Aber vor allem war es eine Flucht aus der Großstadt. Damals, 2008, war Berlin zwar immer noch ein utopischer Ort, eine Spielfläche, auf der sich nach der Wende auch Leute verwirklichen konnten, die nicht viel Geld hatten. Aber es wurde zunehmend voller. In Mitte, um den Rosenthaler Platz herum, entstanden die ersten Hostels und ich hatte das Gefühl, die Stadt nicht mehr so mitgestalten zu können, wie es vorher möglich war.

ARTE MAGAZIN Also sind Sie losgezogen, um sich im Umland zu verwirklichen?
Lola Randl Wir hatten damals noch nicht mal ein Auto, und eigentlich suchte ich nur einen Ort, an dem ich ab und zu ungestört schreiben konnte. Aber die Uckermark hat mich sofort gepackt. Ich konnte nicht glauben, dass es hier noch so unbesiedelt und frei war. Ich habe mich dann ein bisschen überstürzt für einen alten Gasthof hier in Gerswalde entschieden. Erst mit der Zeit ist mir aufgefallen, wie absurd es ist, so ein Riesenhaus mitten im Dorf nur am Wochenende zu bewohnen.

ARTE MAGAZIN Das ganze Projekt – der Garten, ein japanisches Café, ein Co-Working-­Space, ein Eisladen und eine Fischräucherei –, mit dem der Tourismusverband Brandenburg heute wirbt, war also nichts als Zufall?
Lola Randl Es gab jedenfalls keinen ausgereiften Plan. Ich finde es gut, dass alles von unten gewachsen ist und nicht von oben drübergestülpt wurde. Es gab – und gibt – hier so viele Möglichkeiten, die brauchen Zeit. Nachdem mein Partner und ich beschlossen hatten, ganz hierherzuziehen, habe ich meine Mutter nachgeholt und zwei Kinder bekommen – alles andere hat sich ergeben.

Der große Garten

Dokumentarfilm
19.8. • 23.05 Uhr
bis 25.8. in der Mediathek.

Foto: Urban Zintel

Es herrscht ein großer Wettbewerb. Jeder versucht, sich als besonders darzustellen

Lola Randl, Filmemacherin

ARTE MAGAZIN Im Film sieht man jede Menge junge Leute, die offensichtlich null Erfahrung mit Gartenarbeit haben, mit Hingabe Unkraut jäten und Felder bestellen. Wo kamen die alle her?
Lola Randl Das waren Freunde und Freunde von Freunden aus Berlin. Es ist es lustig zu sehen, dass sich ausgerechnet jüngere Leute fürs Gärtnern interessieren. Das ist ein richtiger Generationswechsel. Ich selbst bin dafür ja völlig ungeeignet.

ARTE MAGAZIN Ach so?
Lola Randl Ich habe damit nichts am Hut. Meine Mutter schon, die hat hier einiges gepflanzt, zum Beispiel die zehnköpfige Artischocke, ein beliebtes Fotomotiv. Jetzt kümmern sich junge Leute um den Garten, und die sind ganz oft alles zusammen von Beruf: Werbefilmerin, Kuratorin – und Bäuerin.

ARTE MAGAZIN Was für eine Sehnsucht führt Kreative nach Gerswalde?
Lola Randl Ich glaube, viele Leute wünschen sich neue Lebensmodelle, so geht es mir ja auch. Sie wollen Kinder, können sich das Leben lang in einer klassischen Kleinfamilie nicht mehr so gut vorstellen. Dazu kommt, dass viele freiberuflich tätig sind und im Prinzip überall arbeiten können, wo es Internet gibt. Man hat also eine vage Sehnsucht nach einer anderen Lebensform, aber es gibt noch kein Modell dafür. Viele kommen her, um herauszufinden, wie es aussehen könnte.

ARTE MAGAZIN Im Film ist von „Projektmenschen“ die Rede, die auf Sinnsuche sind. Was macht sie aus?
Lola Randl Das sind frei arbeitende Personen, die sich für begrenzte Dauer in mehrere Jobs gleichzeitig reinwerfen und diese miteinander verknüpfen. Der Projektmensch ist nicht mehr so fest gebunden wie die Menschen früher, die ihr Leben lang eine Wohnung, einen Partner und vielleicht nur einen Beruf hatten. Stattdessen bewegt er sich auf der ganzen Welt und bezieht sein Wissen von überall her.

ARTE MAGAZIN So wie die Japanerinnen, die bei Ihnen im Garten das Café „Zum Löwen“ betreiben und dort Matcha-­Cheesecake und Reisbällchen anbieten?
Lola Randl Es gibt den Begriff des Glokalismus, er beschreibt, dass sich globale Netzwerke lokal verankern. Dafür sind die Japanerinnen ein wunderbares Beispiel. Sie kommen mir vor wie Neophyten, Pflanzenarten von weit weg, die bei uns aber sehr gut fruchten und sich ausbreiten. Unter Botanikern gibt es Diskussionen: Sind das Einwanderer? Haben sie weniger Daseinsberechtigung als heimische Pflanzen? Das sind die gleichen Fragen wie unter Menschen. Auch der aufkeimende Nationalismus hängt damit zusammen.

ARTE MAGAZIN Ist der in Gerswalde Thema?
Lola Randl Ich bin oft überrascht, wie wenig man ihn direkt spürt. Ich bin in Bayern aufgewachsen, da war es offenkundiger, dass man dem Fremden nicht besonders aufgeschlossen war. Hier kenne ich die Wahlergebnisse, aber die Feindlichkeit findet eher unterschwellig statt. Es gibt keinen offenen Austausch, keine Debatte.

ARTE MAGAZIN Im Film wirkt der Kontakt positiv. Die Einheimischen sind die Experten, die den Städtern beibringen, wie man pflügt oder Schafe züchtet.
Lola Randl Es ist nicht immer einfach, einen gemeinsamen Nenner zu finden, aber die Dörfler kennen sich aus, sie geben ihr Wissen gerne weiter. Am besten funktioniert das, wenn alle etwas davon haben.

ARTE MAGAZIN Wobei sie wenig Verständnis zeigen, wenn die Wiese dilettantisch mit der Sense gemäht wird.
Lola Randl Der Stadtmensch fühlt sich interessanterweise dazu berufen, alte Techniken anzuwenden …

ARTE MAGAZIN Was ist so schlimm am elektrischen Rasenmäher?
Lola Randl Das hängt, denke ich, mit der Sehnsucht zusammen, weniger Technik zu nutzen und sich wieder mehr mit der Erde zu verbinden.

ARTE MAGAZIN Man verklärt die gute alte Zeit, aber gleichzeitig wird alles abfotografiert und auf Instagram gepostet. Ist das nicht ein Widerspruch?
Lola Randl Niemand würde ernsthaft anfangen, eine Landwirtschaft mit diesen Techniken zu betreiben. Es geht darum, selbst diese Erfahrung zu machen, sie zu dokumentieren und sein Profil damit auszustatten.

Foto: Urban Zintel

ARTE MAGAZIN Der Antrieb ist Selbstinszenierung?
Lola Randl Es geht um Individualität. Da herrscht ein großer Wettbewerb. Jeder versucht, sich als besonders darzustellen, und dafür sind die unbequemen Praktiken besser geeignet. Aber es gibt auch andere Gründe. Im Fall des Pflügens mit einem Holzgerät verdichtet man den Boden weniger als mit einer Maschine.

ARTE MAGAZIN Die Begeisterung für das Landleben zieht sich quer durch die Bevölkerung. Wie erklären Sie sich diese Faszination?
Lola Randl Immer mehr Menschen spüren, dass wir vor einem Umbruch stehen. Die Industrialisierung funktioniert immer weniger, Arbeitsplätze werden unsicherer. Corona hat das alles verstärkt. Noch ist unklar, wo es hingehen wird, aber die Fragen stehen im Raum: Womit Geld verdienen? Was ist sinnvoll? Aus diesen Gründen träumen viele vom einfachen Landleben, in dem alles seine Ordnung hat – von Büllerbü.

ARTE MAGAZIN Fühlen Sie sich in Gerswalde heimisch?
Lola Randl Ich bin ein unsteter Geist. Einerseits tut mir das Leben nah an der Natur gut, es ist wie eine Therapie. Andererseits frage ich mich ständig, was als Nächstes kommt. Vielleicht ist das ein Problem unserer Generation, dass wir zu viel auf einmal wollen. Früher dachte ich, ich sei eine Art Flachwurzel, die nicht so fest im Boden sitzt, inzwischen habe ich das Gefühl, ich bin eine Spore.