Zu Beginn ein Satz, ein Daten-Satz, mit dem niemand etwas anfangen dürfte. Danach sprechen wir über den Mythos Côte d’Azur, und zwar gewissenhaft. Also: Statistisch beträgt die Arbeitslosenquote Monacos null Prozent. Höchstens zwei Prozent. Vollbeschäftigung im Fürstentum, eifrig Monegassenland, Mekka der Werktätigen. Auf den Jachten wird unter Deck Kohle geschaufelt, die prächtigen Promenaden bilden ein Fließband der Betriebsabläufe, Cabriolets schleppen sich als mobile Mängelerscheinungen umher und selbst die Palmen wachsen aus reinem bruttosozialem Grundgefühl. Ist es daher die Ehrlichkeit des in schweren Schichten strömenden Schweißes, die das Meereswasser der Côte d’Azur so untrüglich blau färbt? Connexion-Emploi, eine deutsch-französische Jobbörse, schreibt jedenfalls: „Mit einer Arbeitslosenquote von null Prozent lebt die Stadt einzig und allein vom erwirtschafteten Kapital.“
Einzig vom erwirtschafteten Kapital lebend. Das liest sich dann wieder nicht so blue colored. Bloß wen schert es überhaupt? Niemand will an Arbeit denken, beim Gedanken an Monaco. Ebenso will kein Mensch an orthopädische Schuhe oder ergonomische Krückengriffe erinnert werden, wenn der süße Name Nizza respektive der Name Nice fällt. Was heißt hier fällt? Emporsteigt! Ni-ce. Schnell und schimmernd ist er in der Luft, wie ein Goldfisch, der kurz aus dem Meer hervormirakelt. Der Tag, an dem irgendjemand an Rübensuppe denkt, wenn es um Saint-Tropez geht, dieser Tag wird nie kommen. Dabei gibt es ganz sicher Gemüter, die sich einer Rübensuppe in Saint-Tropez durchaus zugeneigt zeigen. Ebenso Füße in Nizza, die sehr betreten ohne orthopädische Sondereinlagen dastünden. Unzweifelhaft schinden sich eine ganze Menge Arbeitnehmer in Monaco, die ekelhaft prekär verschleißt werden und ganz gewiss nicht von bereits erwirtschaftetem Kapital vor sich hinfürsten.
Aber all diese Orte der legendären Côte d’Azur, die benötigen wir nicht als reale Verwaltungsräume zivilisatorischer Komplikationen. Nein, stattdessen veredeln und überheben wir die Côte d’Azur zum Mythos. Selbst ihr Name stammt aus der Feder eines Dichters, Stéphen Liégeard, der 1887 ein gleichnamiges Buch veröffentlichte. Zum Vergleich: Den Stadtnamen Chemnitz fand man bei Besiedlung als alphabetische Gesteinsreihe im Boden verfestigt, und die Stadtbegründer respektierten diese Vorgabe der Wirklichkeit seit jeher. Man spricht doch auch nicht von Legendenbildung, weil man sich ganz viel pragmatisches Wissen über eine Legende eintrichtert. Dieser Streifen Südsüße ist uns Platzhalter für das ewig Schöne, Leichte, mühelos Verführerische. Die nie erschöpfte Schöpfung, die Sonne, die Küste, das Meer, die Berge, der endlose Himmel, das Blau, das Grün, das Rot, das Gold, der Glanz, die Wonne, das Parfüm, der Millionentreffer beim Roulette, die rasend edlen Grand-Prix-Rennen, Brigitte Bardot, Picasso, der dort heller malt und mit einer 40 Jahre jüngeren Frau Kinder zeugt, Filmfestivals und Tartelettes mit Himbeeren.
Und all diesen Legenden werden noch mal zig Legenden beigeschworen – als orthopädische Mythoseinlage sozusagen. Max Frisch hat mal so einen Satz geschrieben, dass es eigentlich nie um die Leistung gehe, sondern stets nur um die Rolle, die man spielt. Nichts anderes operationalisiert doch ein Mythos, oder? Die Leistung eines rechtschaffenen Mythos besteht darin, die Rolle seines Lebens zu finden. Ist dies vollbracht, kann er die Hände in den geräumigen Schoß der Zeit legen und Unsterblichkeit durch einen Strohhalm schlürfen. Anders gesagt: Sollte Cannes nächstes Jahr in Castrop-Rauxel umgebaut werden, man weiß ja nie, wir würden es vielleicht niemals zur Kenntnis nehmen können. Geschweige denn wollen.
Ein müder, knittriger Mythos
Mit alldem ist Ihnen selbstverständlich nicht viel Neues gesagt. Das erkenne ich an. Irgendwo in Südfrankreich muss James Bond nun mal seine Verfolgungsjagden drehen. Was aber, wenn ich Ihnen nun berichten würde, dass es einen Ort in Hauchnähe zur Côte d’Azur gibt, wo der magische Mythos schlagartig implodiert? Plopp, macht er da. Spektakulär daran zugrunde gehend, dass man das Unnachahmliche nachahmte. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen! Dabei saßen die Restaurantgänger am selben Meer, der Champagner in ihren Kühleimerchen war nicht um eine Blubberblase biederer, die Sonne keinen Schein ärmer. Und doch: Plopp. Ein müder, knittriger Mythos im karierten Bürohemd und mit Mundgeruch. Die Realität mischt sich dort feindselig in die Magie wie Abgase in Regenbögen. Dieser Ort heißt … Aber nein, Sie sind noch nicht bereit, das erzählt zu bekommen. Denn ein Mythos, ein Mythos gibt dem Menschen erst Festigkeit, erbaut ihn förmlich. Eine Legende, eine derart formidable noch dazu, ins Feuer der Relativität fahren zu lassen? Nein. Riskieren wir besser nichts.
In Nizza also sind die Bauten der Belle Époque so schön, dass alle Menschen, die dort einziehen – und seien sie zuvor schreckliche Scheusale gewesen –, nach maximal zwei gezahlten Monatsmieten ebenfalls bildschön aus ihren Türen treten (nach zwei versäumten Mieten übrigens auch). Auf den Märkten Nizzas erzählt man sich schon lange die faktisch verifizierte Sage vom Mann aus der Rue Dalpazzo, dem Mann mit den Diamantenaugen. Mit kümmerlichen Karottenaugen kam er einst auf die Welt, sodass die wonnigen Wellen des amourösen Zuspruchs ihn nie wiegen wollten. Zu seinem großen Glück zog dieser arme Teufel aber als 29-Jähriger in das herrliche Époque-Eckhaus der Rue Dalpazzo, kaufte sich ein Kanapee, zahlte zweimal Miete. Weil man ihm mit seinen Karottenglubschern selten etwas nachsah, übrigens überpünktlich an den 24. des Junis und Julis. Und als er eines Morgens für einen trüben Kaffee und ein plattes, aber erschwingliches Pain au chocolat vor die Tür trat – da waren seine Augen auf einmal so azurblau und riesig, dass Damenherz um Damenherz fortan unweigerlich verliebt in diesen zwei Diamanten versank.
Frankreichs gewissenhafteste Glorifizierer bestätigen sogar, dass es ausreiche, nur oft genug über die Promenade des Anglais zu spazieren, damit einem makellos goldene Locken sprießen! Romy Schneider, Marlene Dietrich, Marylin Monroe – sie alle schritten eben deshalb unermüdlich die Promenaden der französischen Riviera ab. Unmittelbar vor Filmfestspielen sogar bis zu 17 Stunden am Tag – Promenade rauf, Promenade runter. Um anschließend mit majestätisch strahlendem Goldhaupt vor die Augen der mythos-multiplizierenden Weltöffentlichkeit treten zu können.
Was sagen Sie? Das sei an den Haaren herbeigezogene Fabuliererei? Das „Plopp“ geht Ihnen nicht mehr aus dem Ohr und Sie verlangen von dem Unort zu erfahren, wo der südfranzösische Glamour nicht mehr gewinnend glimmt? Die Wahrheit? Gut, bitte. Aber gewarnt wurden Sie.
Weiße Pyramiden an der Küste
Das Gebiet, von dem wir voller Desillusion sprechen, die Fischer nannten es lange nur die große Düne. Hinter zerfurchter, karg knochig vorgehaltener Hand. Theoretisch zählt es schon zur angrenzenden Region Okzitanien und nicht mehr richtig zur Côte d’Azur. Aber seien Sie nur nicht so fakten-naiv. Wir verhandeln immer noch denselben Teil der Welt, dieselbe Luft, dasselbe Meer. Wenn nicht mit identischen, so hantieren wir doch mit äußerst ähnlichen Bausubstanzen zur Legendenbildung. Also weiter. Zum Weinbau versuchte man diesen Fleck zu nutzen, nicht sonderlich ertragreich. Also übertrug man das sumpfige Land den Ochsen und Schweinen. Bis ein Architekt namens Jean Balladur in den 1960ern, vom Wahnsinn begrabscht, ausrief: „Lasst uns genau hier die ästhetisch perfekte Stadt errichten!“ La Grande Motte. Weiße Pyramiden an der Küste! Hochhäuser als Hommage an die aztekischen Stufenpyramiden. Mythos en Masse! Avantgardistische Ikone am Meer, die Manifestation der Moderne! Ferienhäuser, Jachthäfen, Augenweiden. Rostende Quadratlaternen dieser Tage. Graubraun verwitternde Häuserfronten, Aushänge von Entrümpelungsdiensten an staubigen Säulen, Wahlplakate der Rassemblement National, gelangweilte Sicherheitsleute vor dem unterfrequentierten Impfzentrum am Quartier de Centre. Deutlich gravierender aber: Auch die Strandpromenade, das azurblaue Wasser, die frisch gegrillten Oktopusse, die deliziösesten Doraden, herangebracht von Kellnern, deren Gesichtszüge kaum eitler sein könnten. Ein bezaubernd hübsches junges Elternpaar, stilsicherst angezogen, ebenso ihr kleines Töchterlein, dieses mit mehr formvollendeten Goldlöckchen als Monroe und Dietrich zusammen. Zum Meeresrauschen bekommt sie einen Goldfischballon geschenkt, unweit klirren Champagnergläser und jemand lacht selbstsicher auf. Es reicht einfach nicht zum Mythos. Nein. Nicht hier.
Nachdem Sie mich also genötigt haben, die Düsternis der Düne zu schildern, bin ich nicht nur entgeistert. Ich bleibe irritiert zurück. Denn was sich aus dem Gesagten lernen lässt, ist, dass ein Mythos sich nicht künstlich erschaffen lässt. Nur wie denn sonst? Wie anders als durch menschliche Willkür, den Willen zu küren? Die Côte d’Azur ist ein Phänomen, das Wort hält, wenn es um ihre Einzigartigkeit geht. Deren Einzigartigkeit aber auch durch Worte aufrecht erhalten wird. Vielleicht sind es die letzten Goldlocken von Marylin Monroe, die es bis heute über die Promenaden von Cannes weht. Aus den schmuckstückigen Pastell-Städten heraus, entlang der roten Felsen, ins Meer, wo die Goldfische sich das Löckchen kurz kichernd aufsetzen und doch wieder weiterstubsen. Bis nach Cassis, da wendet sich das Legendenlöckchen wieder windig Richtung Nizza. Möglicherweise ist der nicht zu fassende Inbegriff der Côte d’Azur aber auch, dass es dort immer wieder Klumpfüße, dünne Rübensuppen, Ausbeutung, Autounfälle und Waldbrände gibt. Nur blenden wir das nirgends so zauberhaft leicht aus wie an der blausten Küste aller blauen Küsten.
Die Riviera ist ein sonniger Ort für zwielichtige Menschen