Zuhause – das sei ein Ort, an dem er bleiben kann, sagt Amin. Ein Ort, den er niemals aus einem Zwang heraus verlassen muss. Mit diesen Worten beginnt der Dokumentarfilm „Flee“, in dem ein 36-Jähriger, der zum Schutz seiner Anonymität das Pseudonym Amin erhält, zum ersten Mal die Geschichte seiner Flucht erzählt. Sie beginnt in seiner Heimatstadt Kabul, die in den 1980er Jahren zu einem der blutigsten Schauplätze des Kalten Krieges wurde, und führt ihn als Jugendlichen über die Sowjetunion nach Dänemark – allein. Dort erhält er unter Angabe falscher Tatsachen Asyl. Später promoviert Amin und baut sich mit seinem Lebensgefährten ein neues Leben auf. Dennoch gelingt es ihm nicht, sich irgendwo zu Hause zu fühlen. Als sein Partner ihm einen Heiratsantrag macht, realisiert er: Wenn er seine Zukunft gestalten will, muss er über seine Vergangenheit sprechen.
Der Filmemacher Jonas Poher Rasmussen, den Amin nach seiner Ankunft in Dänemark kennenlernte, wird zu seinem Vertrauten. Die ehemaligen Schulfreunde treffen sich über einen Zeitraum von vier Jahren und arbeiten in Gesprächen nach und nach Amins Vergangenheit auf. Auf den Transkripten basiert der Dokumentarfilm „Flee“, den ARTE im Mai ausstrahlt. Weil der Protagonist anonym bleiben will, arbeitet Rasmussen mit handgezeichneten, animierten Bildern, um die Fluchterfahrung seines Freundes zu visualisieren. Teils bunt, teils in Grautönen spiegeln sie das Seelenleben eines Kindes, dessen Welt durch einen Krieg aus den Fugen gerät, und des Erwachsenen, der immer noch mit dem Verlust seiner Heimat ringt. Die Zuschauenden werden Zeuge, wie Amin einem Migrationssystem ausgeliefert ist, das ein sicheres Ankommen unmöglich macht. Dazu zählen lebensgefährliche Fluchtrouten über Land und Wasser, die Zurückweisung durch Grenzpolizisten, die Erpressung durch kriminelle Schleuser und der Zwang, eine erfundene Identität anzunehmen.
Ergänzt werden die Animationen durch Archivaufnahmen der sowjetischen Intervention in Afghanistan und des postkommunistischen Moskaus der 1990er Jahre, wo Amin sich mehr als fünf Jahre verstecken musste, weil die russische Regierung Zehntausenden Kriegsgeflüchteten aus Afghanistan das Recht auf Asyl verweigerte. „Der Grund für Amins Flucht waren reale Ereignisse an realen Schauplätzen“, betont Rasmussen im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Die Archivaufnahmen sollen Zuschauende daran erinnern, dass die Handlung des Films nicht fiktiv ist, sondern auf wahren Begebenheiten beruht.
FLUCHT ALS HISTORISCHE KONSTANTE
2021 feierte „Flee“ Premiere auf dem Sundance Filmfestival in den USA und wurde als bester ausländischer Dokumentarfilm ausgezeichnet. Es folgten Dutzende internationale Preise sowie drei Nominierungen bei den Oscar-Verleihungen im März. Während seine Geschichte weltweit mit Auszeichnungen bedacht wurde, musste Amin mit ansehen, wie sein Heimatland erneut zum Schauplatz einer humanitären Katastrophe wurde: als unmittelbar nach dem Abzug der US-Truppen die radikalislamischen Taliban die Macht in Afghanistan übernahmen. „Die Nachrichten haben -Amin zutiefst erschüttert“, sagt -Rasmussen. Viele seiner Verwandten müssten derzeit wieder um ihr Leben fürchten. Gerade für Homosexuelle gleiche die Terrorherrschaft einem Todesurteil: Sie werden von den Taliban verfolgt, zwangsgeoutet, getötet. „Es wäre mir lieber, der Film wäre nicht so aktuell, wie es jetzt der Fall ist“, sagt Rasmussen. Amins Schicksal wiederholt sich derzeit millionenfach durch den russischen Angriff auf die Ukraine: Angesichts von bisher rund zehn Millionen Menschen, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, spricht die UNO-Flüchtlingshilfe aktuell von der größten Flüchtlingskrise des 21. Jahrhunderts.
Dass Fluchtbewegungen eine historische Konstante sind – oft mit generationenübergreifenden Folgen – weiß der Filmemacher aus eigener Erfahrung. –Rasmussens jüdische Vorfahren mussten Anfang des 20. Jahrhunderts nach antisemitischen Ausschreitungen aus Russland fliehen. Weil sie in Dänemark kein Asyl erhielten, floh seine Großmutter samt Familie zunächst nach Deutschland – und nach der Machtergreifung der Nazis nach England. „Auch wenn man es ihnen nicht ansieht: Die meisten geflüchteten Menschen haben ein tief sitzendes Trauma“, sagt Rasmussen. „Flee“ sei deshalb auch der Versuch, Sensibilität für die Thematik zu schaffen.