Zu den Filmen von Céline Sciamma gibt es einen Schlüssel in einer vertraut klingenden Wortabfolge: „une jeune fille“. Früher hätte man das unbefangen mit „ein junges Mädchen“ übersetzt. Doch inzwischen ist man da sensibler geworden. Das Wort „Mädchen“ klingt in vielen Kontexten bevormundend. Es mag auch mit der gewachsenen Aufmerksamkeit für sprachliche Nuancen und versteckten Klischees zu tun haben, dass der bekannteste Film von Céline Sciamma im Deutschen einen angepassten Titel trägt: „Porträt einer jungen Frau in Flammen“. Im Französischen heißt er „Portrait de la jeune fille en feu“. Beim Filmfestival in Cannes im Jahr 2019 sorgte Sciamma mit dem Kostümfilm über eine Malerin im 18. Jahrhundert für Furore. Es sind im Grunde gleich zwei „jeunes filles“, die hier aufeinandertreffen: Héloïse (Adèle Haenel), eine Tochter aus einer begüterten Familie, und Marianne (Noémie Merlant), die sich in einem Metier durchsetzen möchte, das davor fast ausschließlich Männern vorbehalten war: der Kunst.
Das Porträt von Héloïse, das sie malen soll, wird auch zum Medium der Liebe zwischen den beiden Frauen. Die vielfach enthusiastischen Reaktionen auf „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ waren einerseits in der Form des Films begründet. Sciamma zeigte sich selbst als Meisterin der Bildkomposition, aber auch der Schauspielführung. Sie öffnete ein Genre, das häufig als steif und altmodisch gilt, für die Gegenwart – selten wirkte ein Historienfilm aktueller. Das hat nicht zuletzt mit der Schauspielerin zu tun, die Héloïse spielt: Adèle Haenel ist in Frankreich eine der wichtigsten Stimmen der #MeToo-Bewegung. Sie zeigt deutlich, wie der Kampf um weibliche Autonomie immer wieder an Grenzen stößt. Noémie Merlant in der Rolle der Marianne wiederum ist eine perfekte Verkörperung jener Veränderungen in den Geschlechterbildern, die das ganze Werk von Sciamma bestimmen.
Wachsendes Verständnis für Genderfluidität
Größere Bekanntheit erlangte die Regisseurin 2011 mit „Tomboy“. Der Titel nimmt die entscheidende Pointe schon vorweg: Die zehnjährige Protagonistin Laure fühlt sich nicht als Mädchen. In der ersten Szene sieht man Laure auf dem Schoß des Vaters sitzen und ein Auto steuern. Den Umzug der Familie nutzt Laure, um sich mit einer neuen Identität in einer neuen Umgebung auszuprobieren: Sie/Er nennt sich Michael – und so lernt ihn auch das Kinopublikum kennen. Der Name Laure fällt erst später im Film. Michael spielt vor allem gern und gut Fußball. Nun kommt es gerade beim Sport irgendwann immer auf das biologische Geschlecht an. Céline Sciamma aber liebt Figuren, die zwischen den geläufigen Einordnungen nach ihrem Weg suchen. Inzwischen ist der Begriff der Genderfluidität gut etabliert – und es wächst das Verständnis dafür, dass eindeutige Zuschreibungen wie Frau oder Mann, Mädchen oder Junge bei vielen Menschen gar nicht greifen und fließende Übergänge existieren.
Das gilt vor allem in den Lebensphasen, mit denen Sciamma sich bevorzugt beschäftigt: Sie hat, neben Jacques Doillon, vielleicht den sensibelsten Blick auf Kinder und Heranwachsende im französischen Kino. Zuletzt zeigte sie das wieder mit „Petite maman“, der dieses Jahr im Wettbewerb der Berlinale Premiere hatte. In ihrem Langfilmdebüt „Water Lilies“ (2007) erzählt sie von Jugendlichen, die sich einem nicht ganz alltäglichen Sport widmen: Wasserballett. Auch hier steht eine Figur im Mittelpunkt, die ein wenig quer zu den populären „jeunes filles“ steht.
Geschichten vom Heranwachsen und von der ersten Liebe haben im französischen Kino eine große Tradition, wenn man an „La Boum – Die Fete“ (1980) denkt. Sciamma, die 1978 geboren wurde, steht nun für eine neue Generation, die differenzierter mit Rollenbildern arbeitet und die mutig erkundet, was es heute heißt, ein Mädchen, eine Frau und vor allem ein einzigartiges Individuum zu sein.
Die weibliche Perspektive fehlt in der Kunstgeschichte