Perfekt gepflegter Rasen, unterbrochen nur von akkurat gestutzten Hecken und blumigen Farbklecksen. Ein See, groß genug für eine Ruderboot-Tour. Über allem thront strahlend weiß eine Villa im Neu-Tudorstil. Tittenhurst Park wirkt wie ein Ort für Märchen. Auch die Geschichte der bekanntesten Bewohner des 29 Hektar großen, östlich von London gelegenen Anwesens gleicht einem solchen: Der Beatle John Lennon und die Konzeptkünstlerin Yoko Ono zogen 1969 frisch verliebt in das Landhaus und lebten dort bis 1971. Es ist der Entstehungsort von Lennons wichtigstem Stück: „Imagine“. Diese intime Phase des Rückzugs arbeitet Regisseur Michael Epstein im Dokumentarfilm „John und Yoko“ (2018) auf, indem er sie mit der Öffentlichkeit der Beziehung kontrastiert. Er zeigt: Tittenhurst Park war für das Paar ein Zufluchtsort vor einer Welt, die Lennon in innere Kämpfe stürzte.
Rückzug aus der Welt
Vor allem beschäftigte den Musiker die sich abzeichnende Trennung der Beatles. Die Medien sahen Yoko Ono als Ursache: Sie habe Lennon von den Beatles entfremdet und aus dem verschmitzten Pilzkopf einen langhaarigen Wirrkopf gemacht. Dabei war sie wohl eher ein Symptom der Entfremdung und nicht deren Ursache. Aus den vier sich zum Verwechseln ähnlich sehenden Jungs waren Männer mit eigenen künstlerischen Vorstellungen geworden. George Harrison nahm schon 1968 ein Soloalbum auf. Ringo Starr fühlte sich von der Band nicht mehr wertgeschätzt. Und das legendäre Songwriting-Duo Paul McCartney und John Lennon driftete auseinander. John Lennon wollte endlich sagen, was er dachte, singen, was er fühlte.
Was das war, entdeckte John Lennon in seinem Rückzugsort. Im hauseigenen Studio nahm er neue Musik auf, fand seine eigene Stimme. Immer dabei: Yoko Ono – oft als stille Beobachterin, immer als kreative Partnerin. Er ließ sich von ihr inspirieren. Ihr politischer Aktivismus wurde in diesen Jahren immer mehr zur gemeinsamen Mission des Paares. Sie luden Intellektuelle zu Gesprächen nach Tittenhurst Park ein, öffneten ihre Türen für alle, die über Politik sprechen wollten: über den Vietnamkrieg, die Hungersnot in Biafra, die Studenten-Bewegung in Europa. Sogar ihre Flitterwochen machten John Lennon und Yoko Ono 1969 zum Protest: Mit „Bed-ins“ demonstrierten sie aus der Horizontalen gegen den Krieg in Vietnam. Auch die Musik wurde politisch. Mit der Plastic Ono Band komponierten sie im Bett „Give Peace A Chance“. Es war das erste Stück, das John Lennon ohne die Beatles veröffentlichte, und wies die Richtung für seine zukünftige Musik: Es bittet das Publikum, mitzumachen, Fantasie zu zeigen, Raum für Utopien zu schaffen. Zu diesem Ansatz inspirierte ihn Yoko Onos Kunst. In einem Gedicht aus dem Band „Grapefruit“ von 1964 hatte sie bereits eingeladen: „Imagine the clouds dripping / Dig a hole in your garden to / put them in“ („Stell’ dir vor, die Wolken tropfen / Grabe ein Loch in deinem Garten, um / sie hineinzulegen“).
Die Kraft der Fantasie
Von dort war es nicht mehr weit zu den Wolken auf dem Albumcover von „Imagine“ (1971). Auch dieser Song lädt die Menschen dazu ein, sich eine andere, bessere Welt vorzustellen. Eine Welt ohne Länder, Religion oder Krieg. Das traf den Nerv einer Zeit, in der vom Summer of Love vor allem Enttäuschung übrig geblieben war. Die Antikriegsbewegung radikalisierte sich 1971 durch die Enthüllung der Pentagon-Papiere. Es wurde deutlich, dass es sich beim Eingreifen der USA in Vietnam um einen geplanten Vorstoß gegen den Kommunismus gehandelt hatte – und nicht, wie offiziell behauptet, um eine Reaktion auf vietnamesische Aggression. Die US-amerikanische Gesellschaft entzweite sich in diesem Sommer 1971 an der Frage nach dem Sinn des Krieges.
Yoko Ono zweifelte indes mehr und mehr an ihrem zurückgezogenen Leben. Sie überzeugte John Lennon davon, umzuziehen – weg vom Land, mitten ins Zentrum des politischen und künstlerischen Aktivismus: nach New York. Den Song, der zur Hymne der Antikriegsbewegung werden würde, hatten sie schon im Gepäck: „Imagine“ war das Produkt ihrer Zeit in Tittenhurst Park – und, Yoko Ono zufolge, ihrer Beziehung überhaupt. Im letzten Interview, das John Lennon zwei Tage vor seiner Ermordung im Dezember 1980 gab, gab er zu, dass das Konzept, sogar Teile des Textes von „Imagine“, die Idee seiner Partnerin gewesen waren. 2017 wurde diese Tatsache endlich gewürdigt: Yoko Ono erhielt fast 50 Jahre nach Veröffentlichung die Co-Autorenschaft für „Imagine“.