Fallen funktionieren im Grunde ganz simpel: Einer stellt sie, ein anderer tappt hinein. Seit dem Trojanischen Krieg ist das Prinzip in der Diplomatie beliebt. Rund 3.000 Jahre später, im Juli 1870, machen die Franzosen damit auf unliebsame Art Bekanntschaft. Im Streit um die spanische Thronfolge sehen sie ihre südwestliche Flanke bedroht, da das Haus Hohenzollern nach der Macht auf der iberischen Halbinsel greift. Kaiser Napoleon III. bekniet Preußenkönig Wilhelm, der gerade zur Kur im rheinischen Bad Ems weilt, er möge seinen Verwandten, Prinz Leopold, davon abhalten, den spanischen Thron zu besteigen. Wilhelm ist vergrätzt, wirkt aber hinter den Kulissen auf Leopold ein, der schließlich verzichtet. Der Friede scheint gesichert. Doch dann schlägt die Stunde des Fallenstellers Otto von Bismarck.
Der Kanzler des Norddeutschen Bundes hat Erfahrung im Anzetteln von Kriegen: Schon 1864 gegen Dänemark und 1866 gegen die Habsburger hat er sein Talent bewiesen. Nun gelingt ihm sein größter Coup. Bismarck steckt eine von ihm sinnentstellend gekürzte diplomatische Mitteilung an die Presse durch: die „Emser Depesche“. Tags darauf, am 14. Juli 1870, wird der provozierende Text, der das französische Diplomatencorps desavouiert, im Königlich-Preußischen Staats-Anzeiger gedruckt. Pariser Zeitungen heizen den Zwist an, und fünf Tage später sieht sich Napoleon III. veranlasst, Preußen den Krieg zu erklären. Die Falle ist zugeschnappt.
„Bismarcks Schachzug führt zwar dazu, dass er sein großes Ziel erreicht: die Einigung der deutschen Staaten samt Reichsgründung“, sagt Hermann Pölking-Eiken. „Damit legt er aber zugleich die Saat für die Weltkriege des 20. Jahrhunderts.“ In der Dokureihe „Der Bruderkrieg – Deutsche und Franzosen 1870/71“, die ARTE im August zeigt, haben Pölking-Eiken und Co-Autorin Linn Sackarnd die Befindlichkeiten der Kriegsparteien analysiert. Anhand von Tagebucheinträgen einer Pariser Zivilistin, eines preußischen Offiziers und eines britischen Kriegsreporters zeichnen sie zudem ein vielschichtiges Bild des Konflikts.
„Die Begeisterung für den Krieg war auf beiden Seiten groß“, sagt Pölking-Eiken, „der Jubel der Franzosen währte jedoch nur kurz.“ Deren Generalstab ahnt nicht, dass Baden, Württemberg, Hessen und Bayern die preußischen Armeen unterstützen. Bismarck hat mit den süddeutschen Staaten einen Beistandspakt geschlossen. So wird aus dem Vormarsch bald ein erbitterter Abwehrkampf auf französischem Boden, bei dem deutsche Truppen etliche Städte zerstören, darunter Straßburg und Metz. Als Napoleon III. bei der Schlacht von Sedan in Gefangenschaft gerät, rufen Jules Favre und Léon Gambetta am 4. September 1870 die Republik aus. Der Krieg geht dennoch weiter. „Im Hinterland wurden frische Truppenverbände gebildet“, so Pölking-Eiken, „gegen die Übermacht Preußens konnten sie aber wenig ausrichten.“
Paris kapituliert am 28. Januar 1871 nach monatelanger Belagerung; der anschließende Aufstand der Pariser Kommune, die die Kapitulation Frankreichs nicht anerkennen will, endet in einem Gemetzel. Im Friedensvertrag von Frankfurt werden dem Deutschen Reich das Elsass und Teile Lothringens zugesprochen. Die eroberten Regionen bleiben 70 Jahre lang ein Zankapfel der beiden Nationen.
IDYLLISCHE RUINEN
FOTOGRAFIE Bilder der Schlachtfelder romantisierten den Krieg – und lockten Touristen aus aller Welt in die zerstörte Metropole Paris.
Prachtboulevards liegen in Schutt und Asche; Barrikaden und Kanonen versperren die Straßen; Soldaten posieren inmitten von Trümmern. Auf vielen Fotografien, die 1870/71 in Paris entstanden, scheint der Geruch von Schießpulver noch in der Luft zu liegen. Ihre Ästhetik ist verstörend, und doch besitzen die Bilder eine seltsame Anziehungskraft. Die zerbombten Häuserfassaden und Plätze wirken gleichsam wie Ziele in einem Reisekatalog.
„Die Kriegsfotografie erschuf Paris als antike Ruinenlandschaft“, sagt der Kunsthistoriker und Bildwissenschaftler Paul Mellenthin. „Gezielt idealisierte man die Orte des Todes als Stätten der Kontemplation.“ Tourismus-Pioniere wie Thomas Cook boten sogar Ausflüge zu den französischen Schlachtfeldern an. Die Reisen waren meist ausgebucht.
Gemeinsam mit Regisseurin Grit Lederer hat Mellenthin in Archiven und privaten Sammlungen erstaunliche Bilder entdeckt. In der Doku „1870/71 Fotografien eines vergessenen Krieges“ sind sie erstmals zu sehen. Auffällig ist, dass „vor allem die französischen Fotografen idealisierte Ruinen abbildeten“, so Mellenthin. „Ihre deutschen Kollegen lichteten dagegen siegreiche Soldaten ab.“ Die Preußen brachten sogar eine spezielle Einheit an die Front: das Königlich-Preußische Feld-Photographie-Detachement. Dessen Lichtbildner lieferten meist Panoramen der Schlachtfelder – ohne freilich die Opfer zu zeigen. Von den Glasplatten fertigten Xylografen anschließend Holzstiche an, sodass Zeitungen und Illustrierte die Bilder drucken konnten.
Eine Sonderstellung nehmen die Bilder der toten Kommunarden von Paris ein. „Es sind weltweit die ersten bekannten Porträts getöteter Soldaten“, so der Bildwissenschaftler. „Vermutlich wurden sie angefertigt, um die Opfer zu identifizieren – eine Art fotografischer Erkennungsdienst.“ Verglichen mit den anderen Kriegsfotos sind sie gestochen scharf. „Kein Wunder“, sagt Mellenthin. „Tote bewegen sich nicht. Bei den damals üblichen langen Belichtungszeiten erwies sich das als großer Vorteil.“