Mit Jesus auf Mission

Schöpfung statt Evolution und kein Sex vor der Ehe: Die evangelikale Weltanschauung polarisiert – trotzdem zieht die Bewegung gerade junge Menschen an. Woran liegt das?

Demonstrant mit Jesus Tattoo auf dem Hinterkopf und Plakat mit Inschrift
Anbetung: Evangelikale Gläubige tragen ihre Hingabe zu Jesus stark nach außen – wie bei einer Kundgebung in Lynchburg, Virginia. Foto: Katharina Eglau / picture alliance / JOKER

Egal wie komplex eine Frage ist, Nathanael B. weiß die Antwort. Ob Beziehungsprobleme, Existenzkrise, Klimawandel – für ihn ist der Leitfaden zur Lösung aller Probleme seit mehr als 2.000 Jahren niedergeschrieben: im Neuen Testament. Und Gottes Wort, so jedenfalls sieht es der evangelikale Christ mit dem Spitznamen ­Natha, hat vor allem anderen Gültigkeit. Wöchentlich teilt er auf seinem Youtube-Kanal „Cross-talk“ Videos, in denen er Bibel­inhalte predigt und „Klartext zu Lebensfragen“ verspricht.

Mit seinem Dienst in den sozialen Medien wolle er der „visuellen Generation zurück zu Gottes Wort helfen“, schreibt ­Nathanael B., der seinen vollen Namen nicht preisgibt, auf seiner Website. Gemeint sind junge Menschen, die mit dem Smartphone aufwachsen – aber ohne ­Jesus ­Christus. „Eine kaputte Generation“, urteilt der Youtuber, „wenn es nicht einen Gott gäbe, der die Kraft hat, Menschen zu verändern“. Sein Heilsversprechen kommt an: Laut Idea, einer Evangelikalen Nachrichtenagentur, gehört Natha zu den einflussreichsten Christen im deutschsprachigen Raum, seine Videos werden oft hunderttausendfach angeklickt. „Es hat mein Leben verändert“, schrei-ben Abonnenten in die Kommentare, oder: „Es hat mich ins Gesicht geschlagen und zu Tränen gerührt.“ Die individuelle Bekehrung  und die stark missionarische Ausrichtung gehören für den Religionssoziologen Jörg Stolz zu den Merkmalen des Evangelikalismus. Ein wörtliches, kein historisch-kritisches Bibelverständnis sei ebenso charakteristisch für die konservativ-pietistische Spielart des christlichen Glaubens, die weltweit mehr als 600 Millionen Anhänger hat. Dazu gehören nicht nur die vielen Freikirchler, sondern auch Baptisten, Mennoniten, die Heilsarmee, die Anskar-Kirche und diverse andere Gruppierungen. „Die Idee, dass man bekehrt wird und sein Leben Jesus gibt, ist wichtiger als die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinde“, sagt Stolz im Gespräch mit dem ARTE ­Magazin. Wie die ARTE-­Dokureihe „Evangelikale – Mit Gott an die Macht“ zeigt, gewinnt die Strömung derzeit insbesondere auf dem amerikanischen Kontinent an Einfluss – auch in der Politik: Der bis 2022 amtierende brasilianische Präsident Jair ­Bolsonaro ist Evangelikaler. Und ­Donald Trump, der 2024 erneut bei den US-Wahlen antreten will, gilt für 49 Prozent der weißen Evangelikalen als favorisierter Kandidat.

Evangelikale – Mit Gott an die Macht

3-tlg. Dokureihe

Dienstag, 4.4. — ab 20.15 Uhr
bis 2.6. in der Mediathek

Zwei Menschen umarmen sich mit Jesus am Kreuz dazwischen
Evangelikale bei einer Demonstration gegen die Corona-Einschränkungen in Berlin. Foto: Fabian Sommer / picture alliance / dpa

GLAUBE ALS RICHTLINIE FÜR DAS LEBEN

„Hat man, wie in den USA, 20 bis 30 Prozent Evangelikale, ist das ein politischer Machtfaktor“, sagt Stolz. Das sei in Europa nicht der Fall. Zwar leben die knapp 1,5 Millionen Anhänger, die sich in Deutschland in Verbänden, ­Landes- und Frei­kirchen organisieren, ihren Glauben intensiv und nehmen ihn zum Maßstab für das eigene Leben. Ihre Einflusssphäre beschränke sich aber auf die eigene Gemeinschaft: „Die meisten, die sich bekehren lassen, sind bereits im evangelikalen Milieu aufgewachsen.“ Dazu gehören vor allem Menschen aus der Mittelschicht, gut ausgebildet und nicht selten in akademischen Berufen tätig.

Einblicke in diesen geschlossenen Kosmos gibt der ehemalige Pastor Bernd Fleißner in seinem Buch „Luftanker“ (2020). 35 Jahre war er selbst Anhänger der Bewegung, dann hatte er genug. Strenger Biblizismus und dogmatische Ansichten, die kein freies, kritisches Denken erlauben: Das evangelikale Weltbild, das ihm als Teenager Halt gegeben hatte, wurde für den Stuttgarter immer mehr zur geistigen Sackgasse. „Evangelikale haben konkrete politische Vorstellungen, für die sie vehement eintreten“, warnt der Ex-Pastor in seinem Buch. Das beschränke sich nicht auf das Privatleben: „Sie wollen ihre Mitmenschen bekehren und setzen ihre Bildungsideale konsequent und vielgleisig um.“

Auch Jörg Stolz bekräftigt, dass einige bibeltreue Christen nicht mit den Erkenntnissen der Wissenschaft mitgehen, etwa wenn es um Wundererzählungen oder die Schöpfungsgeschichte geht. Und auch in Bezug auf Sexualmoral und Abtreibungsfrage stechen Evangelikale durch eine erzkonservative Haltung hervor. Anders als in den USA hält Stolz die Verfechter dieser Positionen in Europa jedoch weder für militant noch für politisch einflussreich. Tendenziell beobachte er in den vergangenen Jahren sogar eine Anpassung der Werte an den Mainstream, etwa bei der Akzeptanz der Homosexualität: „Hier sehe ich keine Radikalisierung, sondern eher eine Aufweichung der Positionen“, sagt Stolz. Allerdings gehe die Liberalisierung deutlich langsamer vonstatten als in der Gesamtgesellschaft. „Eine offene Gesellschaft“, meint Stolz, „muss solche Parallelwelten – bis zu einem gewissen Grad – dulden.“

Dass die Bewegung gerade unter jungen Leuten Anhänger findet, liegt nicht zuletzt an ihrer Vermarktung. Moderne Kirchen nach US-Vorbild, Gottesdienste mit Eventcharakter und Online-Missionierung: Ihre anachronistischen Überzeugungen wissen die Evangelikalen offenbar besser zu verpacken als ihre Glaubensbrüder der Katholischen und Evangelischen Kirche, die unter Mitgliederschwund leiden.