Figuren, die sich vom Fensterbrett stürzen, um wenigstens für kurze Zeit zu fliegen. Das sind die Helden – oder besser Antihelden – in Kerstin Poltes poetisch-skurrilem Roadmovie „Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?“. Da wäre zum einen Charlotte, gespielt von Corinna Harfouch, der nach 37 Jahren, fünf Monaten und 21 Tagen Ehe angesichts der Routine mit Gatte Paul die Hutschnur reißt und die ihn kurzerhand an einer Raststätte aussetzt. Tochter Alex wiederum, verkörpert von Meret Becker, ist eine überforderte und alleinerziehende Fahrschullehrerin, die ihr Glück in der Liebe zu einer Truckerin findet. Eine abenteuerliche Reise führt diese unorthodoxe Familie in ein Inselhotel. Dessen Betreiber? Gott persönlich.
Im Berliner Theater „Bar jeder Vernunft“ sprechen Meret Becker und Kerstin Polte über ihren gemeinsamen Film und die fließenden Grenzen zwischen Mann und Frau.
„Warum soll ich verschwinden, wenn ich noch gar nicht da gewesen bin?“ Mit dieser existenziellen Frage der kranken Charlotte beginnt der Film. Ist das eine Frage, die wir uns öfter stellen sollten?
Meret Becker: Einerseits hoffentlich nicht, denn wenn man noch nicht da gewesen ist, ist das natürlich traurig. Aber andererseits schon. Man sollte bewusst leben, sprich im Jetzt.
Kerstin Polte: Für mich hat diese Frage einen sehr persönlichen Hintergrund. Ich habe meinen Vater während der Drehbuchentwicklung bis zum Tod begleitet und verstanden, wie wichtig es ist, nicht immer alles aufzuschieben, sondern zu tun, wo-rauf man Lust hat, Neues zu versuchen. Deswegen gibt es die Filmszene, in der die Katze aus dem Fenster springt. Woher wissen wir, ob wir fliegen können, wenn wir es nicht ausprobieren? Es ist also ein Plädoyer dafür, dass man öfter mal Sprünge aus dem Fenster wagen sollte.
Im Film tun dies vor allem die Frauen.
Kerstin Polte: Stimmt, sie ergreifen hier nicht nur physisch, sondern auch sinnbildlich das Steuer ihres Lebens.
Die Männer kommen dagegen weniger gut davon. Der eine ist so öde, dass er offenbar nichts anderes als die Raststätte verdient hat, der andere spielt Gott.
Kerstin Polte: Das könnte man meinen. Ich denke aber, dass Charlottes Mann Paul eine emotionale Unbeholfenheit hat, die sympathisch ist. Gott wiederum ist im Film weniger ein Mann als ein Mensch mit Fehlern – schließlich verliebt er sich. Zugleich ist er eine queere Gestalt. Er hat lackierte Fingernägel, geschminkte Augen. Mir war es wichtig, mit gewissen Bildern zu brechen: etwa dem von Gott als Mann, aber auch von der strikten Grenze zwischen Fantasie und Realität.
Meret Becker: Auch ich mag die männlichen Figuren. Aber selbst wenn Männer hier einiges abkriegen sollten: Ich finde, dass wir Frauen so viel eingesteckt haben und noch immer einstecken, dass wir ruhig ein wenig austeilen dürfen. Das Recht haben wir uns über Jahre angespart.
Wie haben Sie diese Ungleichheit konkret erlebt?
Meret Becker: Auf viele Arten. Früher war ich die Tochter von Otto Sander, dann die Schwester von Ben Becker und nun bin ich im Berliner „Tatort“ die Kommissarin an der Seite von Mark Waschke. Oft kriegen Männer zudem bessere Hotelzimmer, Massagen nach der Maske – und mehr Geld. Der nächste Punkt bei der #MeToo-Debatte, für die ich den Frauen, die sich getraut haben, sehr dankbar bin, sollten gleiche Gagen sein. Dafür müssen Männer auf Kohle verzichten, was im Kapitalismus rar ist, wofür ich aber kämpfen will – gemeinsam mit den Jungs.
Kerstin Polte: Es gibt noch viel zu tun. Das Stichwort heißt für mich Solidarität. Ich versuche oft, Frauen Jobs und Kontakte zu verschaffen.
Frau Becker, Sie sind nicht nur Darstellerin, sondern haben auch den Titelsong zum Film gesungen.
Meret Becker: Mich reizen viele Kunstformen. Ich kann alles ein bisschen und nichts richtig – aber das sehr gut. Musik eröffnet mir eine surreale Welt, die ich sehr liebe.
Aktuell stehen Sie hier in der „Bar jeder Vernunft“ im Stück „Die fünf glorreichen Sieben“ auf der Bühne. Gemeinsam mit anderen Frauen, darunter Katharina Thalbach, spielen Sie Cowboys mit all ihren Klischees. Klingt nach reichlich Spaß.
Meret Becker: Absolut. Besonders das Schießen ist toll (springt auf und imitiert einen Westernhelden mit Knarre)!
Ein Kindheitstraum?
Meret Becker: Ja, denn ich musste immer Indianer sein, weil mein Bruder Cowboy war.
Und Sie haben nachgegeben?
Meret Becker: Klar, er war ja älter als ich und hat sich durchgesetzt – und tut es bis heute. Mir gefällt bei dem Stück sehr, dass wir uns bei den Proben manchmal als „er“ bezeichnet haben. Man sagt mir, ich sei sexy als Mann. Vielleicht sollte ich öfter Bart tragen.
Kerstin Polte: Ich fände es jedenfalls großartig, mehr mit Geschlechtergrenzen zu spielen. Gerade das Dazwischen ist doch spannend.
Charlotte lässt im Film genervt ihren Ehemann auf der Autobahn zurück. Hatten Sie selbst schon einmal das Bedürfnis, jemanden an der Raststätte auszusetzen?
Meret Becker: Ab und zu nehme ich Tramper mit. Einige hätte ich gerne wieder rausgeworfen, habe mich aber nicht getraut.
Kerstin Polte: Manchmal möchte ich mich selbst aussetzen, kurz aus dem vorbeirauschenden Leben aussteigen, um die Richtung zu überprüfen, in die ich fahre.