Sommer 2018: Es ist heiß und in den überfüllten Straßencafés in Amsterdam sprechen viele Menschen übers Wetter. Über die neunte Wahl des Europäischen Parlaments spricht noch niemand. Anders dagegen im Inneren des Kulturzentrums De Balie. In dem ehemaligen Gerichtsgebäude im Zentrum Amsterdams treffen sich an diesem Tag Hunderte Künstler, Wissenschaftler und Aktivisten, um über das europäische Projekt und die richtungsweisende Europawahl im Mai 2019 zu diskutieren. Prominente Initiatoren der Veranstaltung „Forum on European Culture“: der Berliner Fotograf Wolfgang Tillmans und der niederländische Architekt Rem Koolhaas.
Herr Tillmans, Sie haben mit Foto-Kampagnen für die Bundestagswahl 2017 und gegen den Brexit mobilisiert. Jetzt engagieren Sie sich für die Europawahl. Was treibt Sie an?
Wolfgang Tillmans: Dass es Leute gibt, die aktiv daran arbeiten, Europa zu sprengen. Ich schulde es dieser Gesellschaft, die es mir ermöglicht hat, frei zu leben und mich zu entfalten, sie zu verteidigen. Und ich schulde es den Menschen, die die Freiheiten, von denen ich profitiere, erkämpft haben. Die das Frauenwahlrecht erstritten haben, die den Rassismus zurückgedrängt haben, die für Schwulen- und Lesbenrechte eingetreten sind.
Das „Forum on European Culture“ hat positive Aspekte des liberalen Europas herausgearbeitet. Es ging aber auch um kritische Themen: Waffen-Export, Missbrauch von Wirtschaftsmacht, den Umgang mit Flüchtenden.
Wolfgang Tillmans: Richtig, bei Problemen, die einzelne europäische Staaten oder die EU verursachen, gibt es nichts zu beschönigen. Wie sich die deutsche Wirtschaft zum Teil als übel eigennützig entpuppt hat und wie die EU afrikanischen Ländern Fischereirechte zu billig abkauft während dort Fischer nicht genügend Fische finden, diese Probleme müssen angegangen werden. Nur müssen wir uns immer bewusst machen, dass das europäische Projekt das Beste ist, was wir jemals hatten. Insofern sollte Kritik nicht in Selbsthass münden. Die EU bietet ein Rechtssystem mit vergleichsweise wenig Korruption, in dem es wirkliche Gewaltenteilung gibt. Das sind Dinge, die sind in weiten Teilen der Welt überhaupt nicht gegeben.
Vielen erscheint die EU immer noch zu abstrakt. Was entgegnen Sie diesen Menschen?
Wolfgang Tillmans: Dass sie trotzdem wählen gehen sollen. Denn es gibt diesen klar nachgewiesenen Zusammenhang, dass bei niedriger Wahlbeteiligung extreme Parteien stärker ins Gewicht fallen. Verrückterweise hat die Wahlbeteiligung bei den acht Europaparlamentswahlen, die es bislang gab, von Mal zu Mal abgenommen. 2014 lag sie gerade mal bei rund 43 Prozent. Das ist paradox, wenn man bedenkt, dass die Befugnisse und die Entscheidungsmacht des EU-Parlaments in jeder Legislaturperiode zugelegt haben.
Wann haben Sie verstanden, was Europa für Sie bedeutet?
Wolfgang Tillmans: Für mich war Interrail eine ganz besondere Sache. Das Reisen in Europa, über Land. Da habe ich gespürt, wie alles geografisch zusammenhängt. Dass Grenzen etwas Menschengemachtes sind.
Haben Sie die kulturellen Gemeinsamkeiten auch gleich erkannt?
Wolfgang Tillmans: Das kam in den frühen 1990ern. Ich wohnte zu der Zeit in England und da war Aufbruchstimmung zu spüren. So ein Gefühl von: Wir sind Europa. Mit Techno- und House-Musik habe ich dort zum ersten Mal paneuropäische Jugendkultur erlebt. Die erste Reportage, die ich 1991 fotografiert habe, zeigte die Techno-Szenen in Gent, Frankfurt und London. Die Überschrift: „Techno is the sound of Europe“.
Berechtigte Kritik an der EU sollte nicht in Selbsthass münden.
Bei Wolfgang Tillmanns war es Interrail. Hatten Sie auch ein Aha-Erlebnis mit Europa, Herr Koolhaas?
Rem Koolhaas: Einen Teil meiner Kindheit bin ich ja in Indonesien aufgewachsen. Und ich erinnere mich gut an die überwältigenden Eindrücke, die ich hatte, als wir wieder zurückgekehrt sind. Da war ich zehn oder elf Jahre alt. Wir kamen auf einem Schiff in Italien, in Genua an. Da habe ich zum ersten Mal verstanden, was es heißt, in Europa zu sein. Aber mit einer Außenperspektive ist es wohl immer einfacher, sich als Europäer zu identifizieren.
Wie wichtig war Sprache für Ihr Selbstverständnis als Europäer?
Rem Koolhaas: Ich war auf einer Schule, in der ich Griechisch, Latein, Deutsch, Französisch und Englisch gelernt habe. Das hat auf jeden Fall dazu beigetragen, dass ich immer für eine aktive Teilhabe an Europa war. Und es hat mir geholfen, mich schnell für andere Kulturen öffnen und begeistern zu können.
Sie bezeichnen sich selbst als Idealist. Gibt es darüber hinaus konkrete Motive für ihr Engagement zur Europawahl?
Rem Koolhaas: Meiner Meinung nach haben wir gerade wirklich das Problem, dass es eine unglaubliche Überschätzung und Faulheit in Bezug auf die europäische Politik gibt. Wir leben in einer Zeit, in der die Leute darauf eingestellt sind, dass sie sich nicht mehr um grundlegende Dinge kümmern müssen. Aber als Bürger sind wir eben sehr wohl selbst mit dafür verantwortlich, was aus Europa wird. Deshalb hat mich die Idee des „Forum on European Culture“ begeistert, denn hier formt sich ein Kollektiv aus ganz unterschiedlichen Menschen, das konkret an neuen Zukunftsideen arbeitet.
Die Teilnehmer ihrer Veranstaltung eint das Vertrauen in die Stärken des liberalen Europas. Haben Sie in Ihrem persönlichen Umfeld auch Menschen, die das europäische Projekt vehement ablehnen?
Rem Koolhaas: Ich kenne viele Leute, auch viele sehr gebildete, die zu meiner großen Überraschung für den Brexit gestimmt haben. Teilweise haben diese Menschen selbst einen Migrationshintergrund, fordern aber: „Ich will mein Land zurück!“ Was für ein schwachsinniges Statement. Ich hatte dazu in den vergangenen Jahren viele intensive Diskussionen. Trotz meiner Haltung dazu gebe ich mir immer Mühe, die Motive hinter dieser antieuropäischen Haltung irgendwie zu begreifen.
Einige Ihrer Bauten stehen in nichtwestlichen Ländern – China, Katar, Russland. Fühlen Sie sich bei solchen Arbeiten als ein Repräsentant Europas?
Rem Koolhaas: Wo immer ich mich befinde, sehe ich mich als Europäer und definitiv nicht nur als Niederländer. Wenn ich in einem Land wie China über Politik spreche, lege ich jedoch viel Wert auf Dialog und Austausch. Man muss die Nuancen berücksichtigen, die andere politische Situationen mit sich bringen.
Sie fordern: ›Ich will mein Land zurück!‹ Was für ein schwachsinniges Statement.