Friedfertige Riesen

Ein Filmemacher begegnet wilden Bären in Alaska, fernab der Zivilisation. Das Abenteuer wirft die Frage auf: Wie nah darf man den Raubtieren kommen, ohne sie zu stören?

Auf Lachsjagd: Im Gegensatz zu den vegetarischen Grizzlys sind die im Katmai-Nationalpark heimischen Küsten­braunbären Allesfresser. Wenn im Spätsommer dort die Lachse flussaufwärts ziehen, ist Lunchtime im Bärenland. Foto: David Bittner

Endlich waren die Lachse da. Wochenlang hatte ­Roman Droux den Tag herbeigesehnt, an dem sie den Fluss hinaufkommen, um ihre Laichgründe im Katmai-­Nationalpark zu erreichen. Tatsächlich freute sich der Regisseur mehr für die hungrigen Küstenbraunbären als für sich selbst und seinen Begleiter, den Biologen ­David ­Bittner.

Einen Sommer lang waren die beiden im Südwesten Alaskas unterwegs, um abseits der Zivilisation das Verhalten der Bären zu erforschen. Was sie im Reich der großen, braunen Zotteltiere erlebten, hielt Droux im preisgekrönten Dokumentarfilm „Der Bär in mir“ fest, den ARTE im Dezember zeigt.

Für den bekennenden Bärenfan war es nicht die erste Begegnung mit den Tieren. Schon 2011 war er Bittner in den hohen Norden der USA gefolgt. „Die zweite Expedition war allerdings viel intensiver“, sagt Droux im Gespräch mit dem ARTE Magazin. „Wir tauchten tief in den Bärenkosmos ein, kamen den Tieren sehr nah. Besser gesagt: Sie kamen nah an uns heran, quasi in Riechweite.“ Schnell wurde ihm klar: „Den zulässigen Abstand bestimmen nicht wir, sondern sie.“

Was gelegentlich den Adrenalinpegel steigen ließ. „Einige Teenagerbären, die ihre Grenzen testen wollten, verhielten sich unberechenbar. Sie rannten brüllend auf mich zu und griffen zum Schein an“, sagt Droux. Erst zuckte er kurz zusammen, brüllte dann aber instinktiv zurück. Daraufhin rannten sie davon. „So erfuhr ich, wie man sich wehren kann: indem man sich aufrichtet und laute Geräusche von sich gibt. Der Trick klappt freilich nicht bei erwachsenen Bären. Die lassen sich davon nicht beeindrucken.“

Der Bär in mir

Tierdoku

Samstag, 18.12. — 20.15 Uhr
bis 17.3.2022 in der Mediathek

Foto: David Bittner

Überraschend zutraulich
Mit der Zeit lernte Droux die imposanten Tatzentiere immer besser kennen, konnte sie sogar voneinander unterscheiden und bisweilen ihr Verhalten voraussagen. Dabei erwies es sich als hilfreich, dass Expeditionspartner Bittner, der seit rund 20 Jahren das Leben der Braunbären in Alaska studiert, den Tieren Namen gegeben hatte. Balu, ein rund zehn Jahre altes Männchen, war besonders friedfertig und erinnerte Droux an eine lebensgroße Version seines Plüschbären aus Kindheitstagen. Noch zutraulicher verhielt sich Luna, ein etwa vier Jahre altes Weibchen.

„Gelegentlich hatte ich den Eindruck, sie wollte mit uns kommunizieren“, sagt Droux. „Zwischen ­David und ihr entwickelte sich sogar eine Art von Zuneigung. Zumindest nannte er es so.“
Geradezu poetisch schildert der Film die Erlebnisse auf Tuchfühlung mit den Tieren. Doch wie nah darf man Bären in freier Natur überhaupt kommen, ohne sie in ihrem Habitat zu stören? „Im Grunde haben wir eine Grenze überschritten, als wir ins Bärenland eindrangen, nur um mit einem Film im Gepäck wieder abzureisen“, räumt der Filmemacher ein. „Noch einmal würde ich das nicht tun, obgleich die Erfahrung großartig war. Am besten wäre es, wir würden die Tiere in ihrer natürlichen Umgebung sich selbst überlassen.“

Bärenforscher Bittner sieht das anders. Seit einigen Jahren bietet er sogar geführte Beobachtungstouren in der Region an. Die Touren und auch der Film sollen „Aufmerksamkeit für die Tiere und ihr bedrohtes Zuhause schaffen“, so der Biologe. „Solange die Bären genügend Rückzugsorte haben, ist ihre Existenz im Nationalpark nicht gefährdet.“

Klingt nach einer intakten Idylle. Gestört wird sie allerdings von Alaskas Fischereiwirtschaft (Jahresumsatz: 5,6 Milliarden US-Dollar; 60.000 Beschäftigte). Denn die beutet die Gewässer systematisch aus. Pro Jahr werden in der Region 200 Millionen Lachse gefangen. Da deren natürliche Reproduktionsrate nicht ausreicht, um die globale Nachfrage zu stillen, setzen die Produzenten Millionen gezüchteter Junglachse in die Flüsse ein, die später als vermeintlich nachhaltiger Wildlachs auf den Weltmarkt gelangen.

Tierschützer sind besorgt: Immer weniger Fische schaffen es zurück in die Flüsse und Seen im Nationalpark, sodass den 2.000 dort lebenden Bären langfristig die Nahrung auszugehen droht. „Gegen Ende des Sommers magerten einige Tiere stark ab, die schwächeren verendeten“, sagt Droux. „Umso erleichterter waren wir, als die ersten Lachse Ende August im Fluss aufkreuzten.“

Für Balu, Luna und ihre Kumpane ein Festmahl, bei dem sie Hunderte von Fischen verspeisten und Energie für ihren Winterschlaf speicherten. Für Droux und Bittner dagegen eine Gelegenheit, die unterschiedlichen Fangtechniken der Tiere und deren Sozialverhalten zu beobachten. „Auffallend daran“, so der Filmemacher: „Die Bären machten einander die Beute nie streitig.“ Ob es daran lag, dass Fisch gerade im Überfluss vorhanden war? „Denkbar“, meint Droux, „aber es ist auch ein Indiz dafür, wie friedliebend und genügsam die Tiere sind.“

Am besten, wir überlassen die Tiere in ihrer natürlichen Umgebung sich selbst

Roman Droux, Autor und Filmemacher