Archäologie und die Nachbardisziplin Paläontologie setzen oftmals Detektivarbeit voraus. Bestes Beispiel: der Fall von El Graeco. Der begann im Jahr 1944, als der Wehrmachtsgeologe Bruno von Freyberg beim Bunkerbau in der Nähe von Athen Knochen eines Unterkiefers sicherte. Dabei ahnte er nicht, welche Bedeutung dieser Fund einmal haben würde. Vielmehr vermutete von Freyberg, die Überreste einer frühen Meerkatzenart in den Händen zu halten, weshalb der Kiefer schnell in Vergessenheit geriet. Ein großer Irrtum. Gewissenhaft dokumentiert, aber weitestgehend unangetastet, lagerte das zerbrechliche Fossil jahrzehntelang in einem Instituts-Safe, wo es Madelaine Böhme schließlich – in einer Tupperdose verwahrt – auffand. Sich auf einer spektakulären Fährte ahnend, bewies die Paläontologin von der Universität Tübingen viel Scharfsinn. Und sie sollte belohnt werden: Was Böhme herausfand, hat das Potenzial, das gängige Bild der Primatenevolution auf den Kopf zu stellen – und damit unsere Vorstellung von der Entstehung der Menschheit.
Freybergscher Griechen-Affe und Udo, der Allgäuer
Wie die ARTE-Dokumentation „Europa – Wiege der Menschheit?“ zeigt, stellten Böhme und ihr Team 2017 mithilfe von Computertomografie und paläomagnetischen Methoden fest, dass der in Griechenland ausgebuddelte Unterkiefer dem Vertreter einer Primatengattung angehören muss, die vor rund 7,2 Millionen Jahren in Europa lebte. Eine Sensation – denn damit ist der Fund älter als alle vergleichbaren Fossilien aus Afrika. Überreste von Vormenschen wie dem Ardipithecus ramidus (4,4 Millionen Jahre) in Äthiopien oder Sahelanthropus (6 bis 7 Millionen Jahre) im Tschad stützten bislang die sogenannte Out-of-Africa-Theorie. Sie besagt, dass die Ursprünge des aufrecht gehenden Homo sapiens allein südlich der Sahara anzusiedeln seien. Die Schlussfolgerung der Tübinger Wissenschaftler: Die eigentliche Abspaltung der Entwicklungslinien von Vormenschen und Menschenaffen könnte sich im europäischen Mittelmeerraum vollzogen haben. Unabhängig von derlei Überlegungen erhielt der Ureuropäer den Namen Graecopithecus, kurz: El Graeco, oder wahlweise Graecopithecus freybergi, was so viel bedeutet wie: Freybergscher Griechen-Affe.
Während die Fachwelt ihre Forschungen diskutierte, sammelte Madelaine Böhme weiter Indizien dafür, dass die Evolution des Menschen komplexer abgelaufen sein könnte als bislang angenommen. Dabei gelang ihr ein weiterer Sensationsfund, diesmal in Deutschland, genauer gesagt im bayerischen Ostallgäu. Wie Böhme in einer im November 2019 im Fachmagazin Nature veröffentlichten Studie berichtete, entdeckten sie und ihr Team Überreste eines fast zwölf Millionen Jahre alten menschlichen Vorfahrens – Danuvius Guggenmosi, Spitzname: Udo. Im Allgäu fanden die Forscher sogar ein wesentlich besser erhaltenes Skelett – darunter Wirbel, Arm- und Beinknochen sowie Finger- und Zehenknochen. „Zu unserem Erstaunen ähnelten einige Knochen mehr dem Menschen als dem Menschenaffen“, sagte Böhme der Süddeutschen Zeitung. Den Fund wertete die Wissenschaftlerin als „Sternstunde der Paläoanthropologie“ und „Paradigmenwechsel“ – und kündigte weitere Grabungen an.
Wir haben eine Vielfalt an spektakulären Funden
Prominentester Unterstützer von Böhmes hartnäckig verfolgter Out-of-Europe-Hypothese und ebenfalls Protagonist der ARTE-Doku ist der Paläontologe David Begun. Er untersucht die Entstehungsgeschichte von Menschenaffen und Menschen seit 40 Jahren an der Universität Toronto. Das Ergebnis seiner Arbeit: In der Phase, in der sich die Entwicklungslinie der heutigen Menschenaffen bildete, lebten diese offenbar tatsächlich vorwiegend in Europa. Laut Begun reihen sich die Funde aus Griechenland und Bayern in dieses Bild ein. Sein Fazit: „Man kann die vielen Belege, die dagegen sprechen, dass der Mensch allein in Afrika entstanden ist, nicht weiter ignorieren.“