Man brauchte uns’re Arbeitskraft / die Kraft, die was am Fließband schafft“, sang der türkische Rockmusiker Cem Caraca 1984. 22 Jahre zuvor hatte die Bundesrepublik ein Anwerbeabkommen mit der Türkei geschlossen – und bis 1973 mehr als 900.000 arbeitswillige Männer und Frauen ins Land geholt. Nach der Ölpreiskrise und der darauffolgenden Rezession sollten sie dann – zu Hunderttausenden – zurück in die Türkei gehen. „Wir Menschen waren nicht interessant“, resümierte Cem Caraca in seinem Lied, „darum blieben wir euch unbekannt.“ Wie unbekannt insbesondere die Musikkultur der Arbeitsmigranten bis heute geblieben ist, zeigt Cem Kayas Dokumentarfilm „Songs of Gastarbeiter: Liebe, D-Mark und Tod“. Mit dem ARTE Magazin spricht der Regisseur über Ressentiments, Proteste und die emanzipatorische Kraft der Musik.
ARTE Magazin Ihr Film zeigt anhand von Archivmaterial den Alltag türkischer Arbeitsmigranten. Wie tief mussten Sie graben, um an diese Aufnahmen zu kommen?
CEM KAYA Der Rechercheaufwand war riesig. Ich habe zunächst ein Jahr lang Migrationsforschung betrieben und private und öffentliche Archive durchforstet. Obwohl ich selbst Teil dieser Geschichte bin – meine Eltern sind als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen –, gab es vieles, was ich nicht wusste. Hinzu kommt, dass das Leben der Migranten und Migrantinnen nicht gut dokumentiert ist. Die Öffentlichkeit interessierte sich vor allem dann für sie, wenn sie in den Schlagzeilen waren – etwa während des sogenannten wilden Ford-Streiks oder des Pierburg-Streiks, beide 1973. Themen wie die Perspektivlosigkeit der Kinder und Jugendlichen waren hingegen weniger populär.
ARTE Magazin Wie empfanden Sie die Darstellung der sogenannten Gastarbeiter in den Medien?
CEM KAYA Viele TV-Beiträge waren empathisch und benannten die Probleme der Migranten und Migrantinnen. Aber sie waren eben auch oft paternalistisch und hatten diesen ethnologischen Blick durch die Lupe, den wir heute als problematisch empfinden. Andere Beiträge sprechen für sich selbst, zum Beispiel die Revuenummer von Rudi Carrell, der singt: „Man braucht einen Türken aus Konstantinopel, sonst gäb es bestimmt kein VW oder Opel.“ Im Hintergrund sieht man als Bauarbeiter verkleidete Statisten mit aufgeklebten Schnauzbärten – das sagt viel aus über die damalige Zeit.
ARTE Magazin Die Musik der Gastarbeiter mit ihren oftmals satirischen Texten war eine Antwort an die Gesellschaft?
CEM KAYA Dass die Lieder teilweise so kritisch waren, hat mit der Tradition der Aşık zutun, der anatolischen Volksliedsänger. Sie wanderten schon im 16. Jahrhundert von Dorf zu Dorf und kommentierten in ihren Liedern – oft satirisch – das gesellschaftliche Leben. Die Aşık-Tradition, also das Kommentieren und Parodieren der Mächtigen, kam mit dem ersten Zug von Gastarbeitern nach Deutschland: Leute, die mit der Bağlama, der anatolischen Langhalslaute, im Abteil saßen und ihre Lieder improvisierten. In Deutschland setzte sich das fort. Der Ford-Arbeiter und Volksmusiker Metin Türköz etwa thematisierte in den 1960er Jahren die prekären Lebensbedingungen der Gastarbeiter, die in Sechsbettzimmern auf Strohmatratzen schliefen und zum Duschen in die Fabriken fahren mussten.
ARTE Magazin Wie gelang es den Menschen, ohne Unterstützung im neuen Land, ihre eigene Musik professionell zu produzieren?
CEM KAYA Ein paar clevere Geschäftsleute erkannten, dass es einen Markt gibt – und bauten eigene Labels auf. Yılmaz Asöcal, der Gründer des Kölner Labels Türküola, etwa ging auf die Leute zu und sagte: „Wir nehmen das jetzt auf, was du da letztens im Arbeiterheim gespielt hast.“ Zeitgleich wurde Musik aus der Türkei importiert. Man fuhr mit dem Auto vor die Arbeiterheime und verkaufte Vinyl, Kassetten und Alltagsgegenstände wie Gebetsteppiche.
ARTE Magazin Im Film sieht man Szenen von rauschenden Festen aus den 1980er Jahren – Raki und Geld flossen in rauen Mengen. Woher kam die Lust auf Ausschweifungen?
CEM KAYA In dem Moment, als sich migrantisches Leben etablierte, wurde auch mehr gefeiert: Hochzeiten, Verlobungen, Beschneidungsfeste. Außerdem kamen Stars aus der Türkei für Konzertreisen nach Deutschland und die Kultur der Musiklokale, sogenannter Gazinos, wurde importiert. Der verschwenderische Umgang mit Geld, den der Film zeigt, ist ein urbanes Phänomen und eher die Ausnahme. Ich finde es aber sympathisch: Die Menschen kamen, malochten hart – und dann warfen sie auf Festen mit D-Mark-Scheinen um sich. Geld war eben am Ende nicht alles.
ARTE Magazin In den 1990er Jahren kippte die Stimmung, als das wiedervereinigte Deutschland Zeuge einer Reihe tödlicher Neonazi-Anschläge wurde …
CEM KAYA Rechte Hetze hatte schon davor zugenommen. Deutschland wollte die Gastarbeiter während der Ölpreiskrise der 1970er Jahre wieder loswerden – doch der Anwerbestopp von 1973 erzielte den gegenteiligen Effekt. Viele dachten sich: Wir sind nicht nur Arbeiter, die wieder zurückgehen, sondern Migranten – wir bleiben hier. Nach der Wiedervereinigung fanden dann die Pogrome in Hoyerswerda, Rostock und Lichtenhagen statt. Und die rechtsextremen Anschläge in Mölln und Solingen.
ARTE Magazin Wie beeinflusste das die migrantische Musik?
CEM KAYA Die dritte Generation brauchte einen neuen Ausdruck für die Schmerzen und Probleme. Unsere Eltern hatten die Arabeske, unsere Großeltern die Volksmusik. Für uns war es der Hip-Hop. Schwarze Rapper und Latinos aus den USA waren die Vorbilder. Hinzu kam, dass wir uns in der Gesellschaft anders verorteten. Wir hatten uns dieses Leben nicht ausgesucht, sondern wurden als Kinder hergeholt oder hier geboren. Wir hatten Rassismus erlebt, in der Schule und auf den Straßen. Natürlich war man voller Wut – und Hip-Hop war ein Ventil. Ich lasse den Film an dieser Stelle enden. Denn was nach den 2000er Jahren kam, wäre ein eigener Film.