Sie müsse sich wirklich gut überlegen, ob sie in den Westen ziehen wolle, sagt Sarah Kühn. Mit „dem Westen“ meint die 27-jährige Studentin das Gebiet der Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung. Die gebürtige Brandenburgerin hat ihr gesamtes Leben in Ostdeutschland verbracht; seit einigen Jahren wohnt sie mit ihrem Partner Sebastian Paulini in Potsdam. „Ich fühle mich in Ostdeutschland zu Hause und komme erfahrungsgemäß auch besser mit Ostdeutschen zurecht“, fügt Sarah Kühn hinzu.
Paulini kommt aus Bayern, „aus dem tiefsten Westen“, wie er sagt. Als er nach Potsdam zog, sei das für ihn zunächst keine große Umstellung gewesen. Das mag auch daran gelegen haben, dass sich der 29-Jährige lange Zeit gar nicht als Westdeutscher verstanden hatte. „Für mich war das kein identitätsstiftendes Merkmal“, erklärt er. Dass seine westdeutsche Herkunft ihn geprägt hat, wurde Paulini vor allem durch seine Beziehung klar. Für Kühn war ihre ostdeutsche Sozialisation bereits von der Kindheit an ein Thema gewesen. „Für meine Mutter war es prägend, die DDR und den Mauerfall miterlebt zu haben“, sagt die Studentin. Ihre Geschichten und Erfahrungen habe sie an ihre Kinder weitergegeben. „Mir war mir immer sehr bewusst, dass ich Ostdeutsche bin.“
HEIRATEN? NEIN DANKE!
Sogenannte Ost-West-Paare gab es nach Berechnungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) im Jahr 1990 noch wenige. Seitdem ist ihre Zahl kontinuierlich gestiegen: 2017 waren es 5,3 Prozent, gemessen an der Gesamtbevölkerung. Laut einer 2015 veröffentlichten Studie des Soziologen Daniel Lois von der Universität der Bundeswehr München ist dabei die häufigste Kombination eine in Ostdeutschland sozialisierte Frau, die mit einem in Westdeutschland sozialisierten Mann in einem alten Bundesland zusammenlebt. Das liege daran, dass nach dem Mauerfall vor allem junge Frauen aus dem Osten in den Westen gezogen seien.
Während ARTE mit der Geschichtsdokumentation „Liebe im Kalten Krieg“ auf die Jahre der deutsch-deutschen Teilung blickt, stellen sich heute auch die Fragen: Spielen Ost und West als Kategorien in einer Beziehung im vereinten Deutschland wirklich noch eine Rolle? Weisen Ost-West-Paare auch heute noch distinktive Merkmale auf? Durchaus. Laut der Studie von Lois zeichnen sich Ost-West-Paare im Vergleich zu West-West-Paaren durch eine relativ gleichgestellte Arbeitsteilung, häufige Scheidungserfahrungen mindestens eines Partners und eine starke Tendenz, unverheiratet zu leben, aus. Besonders markant ist der Unterschied beim Thema Religion. Ostdeutschland gilt als eine der säkularsten Regionen Europas. Im Jahr 2022 gehörten laut einem MDR-Bericht weniger als 15 Prozent der Ostdeutschen der evangelischen Kirche an, bei den Katholiken lag der Anteil sogar unter fünf Prozent. Diese Säkularität geht auf die restriktive Religionspolitik der DDR-Führung zurück, die den Einfluss der Kirche massiv eingeschränkt hatte.
Auch Sarah Kühn und Sebastian Paulini spüren diese Differenzen. „Ich bin komplett ohne Religion aufgewachsen. Ich weiß gar nicht, was in der Bibel steht“, sagt Kühn. Paulini hingegen sei katholisch erzogen worden und kenne viele christliche Erzählungen und Symbole. Für Kühn seien diese eher Mythologien. „Sebastian konnte mir da immer viel erklären, das fand ich sehr bemerkenswert.“ Die unterschiedliche Sozialisierung scheint sich aber auch auf die Stabilität der Beziehungen auszuwirken. Bei Ost-West-Paaren, die im Durchschnitt 30 Jahre alt sind, liegt die Trennungswahrscheinlichkeit doppelt so hoch wie bei West-West-Paaren. Der Soziologe Lois führt dies auf die Tatsache zurück, dass Ost-West-Paare häufig unverheiratet sind und mindestens einer der Partner bereits eine Scheidung hinter sich hat.
Trotz dieser statistischen Tendenzen haben Kühn und Paulini nur wenige Konflikte aufgrund ihrer unterschiedlichen Prägungen erlebt oder wurden sich schnell einig – so auch bei der Urlaubsplanung. Weil Kühn als Kind vor allem zur Ostsee gefahren ist, verbringen die beiden heute oft ihren Urlaub dort. „Anfangs war es eine Umstellung, da meine Familie meist am Mittelmeer Urlaub gemacht hat“, sagt Paulini und ergänzt: „Inzwischen genieße ich aber auch die Ostsee.“ Eine Anpassungsfähigkeit, die sich in vielen Bereichen ihrer Beziehung zeigt. Nur die Frage eines Umzugs in den Westen könnte in Zukunft noch für Diskussionen sorgen.