Ne me quitte pas“ / „Geh nicht fort von mir“ – eine Liedzeile, so simpel wie bedeutend für Jacques Brels Werk und den Menschen dahinter. Hierhin irrlichtert mein Geist jedes Mal, wenn ich mich mit diesem genialen Künstler auseinandersetze. Es ist eine Zeile, die wie keine zweite Brels Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit zu erklären vermag. Und die muss man verstehen, wenn man eine Hymne auf ihn verfasst. Oder liest.
Brel hat es immer abgelehnt, das Lied von dem Mann zu singen, der von einer Frau für immer und ewig verlassen wird. Sich kleinmachen, das war für ihn unerträglich. Gleichwohl ist „Ne me quitte pas“, sein wohl größter Hit, ein flehentliches Klagelied auf das Verlassenwerden. Jacques Brel wollte den Frauen nie hinterherlaufen, konnte aber offensichtlich auch keiner Verlockung widerstehen. Mehrfach führte er eine Art Doppelleben mit Parallelbeziehungen. Dabei prägte sein bewegtes Privatleben immer auch seinen musikalischen Charakter. Auf der einen Seite gab er sich in seinen Texten als ein chauvinistisch anmutender Typ, der Frauen mitunter sogar beleidigte. Auf der anderen Seite als das Muttersöhnchen par excellence – als empfindsamer Mann, der Frauen das Gefühl zu geben vermag, dass er sich für sie in der Luft zerreißt.
Brel selbst, das unterstelle ich ihm, wollte immer eine Art Hippie sein, ein Outlaw, ein Unruhestifter. Er wollte ausbrechen aus der tristen Bürgerlichkeit seines Elternhauses („Mon enfance passa / De grisailles en silences“ – „Meine Kindheit verging / In Alltagsgrau und Schweigen“), vermochte es aber nie ganz, das Korsett seiner belgisch-katholischen Erziehung abzulegen. Eine behütete Kindheit, eine gut situierte Familie, eine Privatschule – nicht gerade die optimale Voraussetzung für ein gequältes Künstlerdasein. Verwöhntheit ist Gift für jeden, der die Abgründe sucht. Da muss man aufbegehren. Da muss man sich Gehör verschaffen. Radau machen.
„Spießbürger sind wie Schweine“
Und genau das hat er getan. Er wollte sie alle erreichen mit seinen Versen – die Frau, die Geliebte, die Prostituierte, die Mutter. So verpackt er in seinen Stücken große Dramen in drei Minuten, nennt das einen Liebesakt und pisst dabei lauthals auf die Bourgeoisie, obwohl er selbst dazu zählt („Les bourgeois c’est comme les cochons / Plus ça devient vieux plus ça devient bête“ – „Die Spießbürger, sie sind wie Schweine / Je älter sie werden, desto dümmer werden sie“). Ein künstlerischer Rundumschlag, der nicht immer frei von moralischen Bedenken war, jedoch immer sehr, sehr ehrlich.
Als mich der Brel’sche Charme, diese unverwechselbare Melange aus ausgeprägter maskuliner Stimme, exzentrischem Auftreten und pathetischer Ader, damals gepackt hat, war ich 16 Jahre alt und mein Französisch so mies, dass ich die Lieder nur auf rein musikalischer und stimmlicher Ebene erfahren konnte. Der inhaltliche Kontext blieb mir zunächst verschlossen. Jacques Brel hat meinen inneren Safe auf der Gefühlsebene geknackt. Zu der Zeit habe ich ein Ventil zum Ausbrechen gesucht. Und Brel war quasi mein Lockvogel.
Das ist auch der Grund, warum ich mich meistens sträube, ihn zu sehr zu erklären. Alles an ihm verstehen zu wollen, ist so vermessen wie meine Versuche, ihn ins Deutsche zu zerren. Dennoch habe ich es getan und die Übertragungen sind gut und singbar. Aber es gleicht der Anmaßung einer Sopranistin, eine Opernarie ins Deutsche zu übertragen. Da kann man zugegebenermaßen nur verlieren und tapst im Grunde in der Musik herum wie ein verwirrtes Huhn. Um Brel ernsthaft zu verstehen, muss man sein Lebensgefühl nachempfinden. Das musikalisch Greifbarste an ihm ist vielleicht die Grundform seiner Auftritte: Er landete immer in einer sich steigernden Spirale, zum Schluss explodierte alles. Eine Art Katharsis auf der Bühne. Jedes Mal aufs Neue. Bis zu 300 Mal pro Jahr.
Absoluter Anfänger und Routinier gleichermaßen
Ein atemberaubendes Beispiel ist sein Auftritt im belgischen Knokke-le-Zoute von 1963. Wer ihn da nicht fühlt, dem kann nicht geholfen werden. Da sehen wir einen Brel in Bestform. Einen absoluten Anfänger und Routinier gleichermaßen. Da steht ein Typ auf der Bühne, der alles vor sich hat oder haben will, und alles probiert, um gesehen zu werden und anzukommen. Mit jedem Lied, mit jeder Zeile erfindet er sich neu, setzt eine andere Maske auf. Und jede Rolle macht er sich zu eigen.
Darum ist dieser Ausnahme-Chansonsänger auch heute noch relevant. Die Rollen, die er spielt, kommen nicht aus der Mode. Sie bedienen die großen Gefühle, vermitteln Zorn und Zerbrechlichkeit. Gleichzeitig maßen sie sich nicht an, globale Probleme zu behandeln, sondern sprechen den Einzelnen an und hören ihn in seinem persönlichen Schmerz. Das macht ihn auch heute noch groß. Darum kommt man auch heute noch zu Jacques Brel zurück.
Der Autor ist Liedermacher und Schauspieler und lebt in Berlin. Er gilt als führender deutscher Interpret von Jacques Brel.