Paris, 2040. Ein tiefer Atemzug, schon strömt gereinigte Großstadtluft aus einer Art Litfaßsäule am Straßenrand in die Lunge. Ein Schluck Kaffee aus dem biologisch abbaubaren To-go-Becher. Dann ab ins Auto, das nicht von Benzin, sondern von winzigen Organismen angetrieben wird, die seit Milliarden Jahren die Erde bevölkern. Oder gleich aufs Fahrrad – selbstredend hergestellt aus grünem Carbon. Ein klimaneutrales Zukunftsszenario, ganz ohne Kohle oder Erdöl, allein gespeist von braunen, blauen, roten oder grünen Wesen, die wir alle kennen, aber völlig unterschätzen: Algen.
Glaubt man den Wissenschaftlern, die sich mit dem Potenzial von Algen beschäftigen, ließe sich die beschriebene Vision innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte realisieren. Mithilfe der Fotosynthese binden Algen Kohlenstoffdioxid und wandeln es in Sauerstoff und Energie um. Unter anderem das macht sie so wertvoll – angesichts des Klimawandels mehr als je zuvor. Daneben wachsen Algen bis zu 20-mal schneller als Landpflanzen und produzieren bis zu 30-mal mehr verwertbare Fette als etwa Raps. Und: Der Anbau von Algen benötigt keine immensen Agrarflächen, sondern sie gedeihen nahezu ganzjährig im Meer oder in Mikroalgenfarmen – ohne umweltschädlichen Dünger. So wird das Image der stinkenden Plage, die Gewässer vergiftet und Strände verschmutzt, bereinigt. Denn womöglich sind Algen die Antwort auf die drängenden Klima-, Ernährungs- und Gesundheitsfragen unserer Zeit.
Kohlenstoffdioxid-Vertilger
Um die Luft in Städten künftig von Schadstoffen zu befreien, testet die französische Gemeinde Poissy nahe Paris seit 2017 eine mit Algen betriebene Filteranlage, die an eine überdimensionale Litfaßsäule erinnert. In einer vier Meter hohen Konstruktion sind Wasser und Mikroalgen enthalten, die Fotosynthese betreiben: Die Algenpartikel nehmen CO₂ aus der Luft auf und produzieren mithilfe des Tageslichts Sauerstoff. So erfüllt die Säule den Zweck eines kleinen Waldes, erklärt Jérôme Arnaudis, einer der Entwickler des Filters, in der ARTE-Doku „Algen: Ein unbekannter Rohstoff“: „In einer städtischen Umgebung entspricht die Sauerstoffleistung einer Säule der von ein paar Dutzend Bäumen. In der Industrie, wo wir Abgase mit hohem CO₂-Gehalt haben, sprechen wir von einer Leistung von über hundert Bäumen.“ Dass sich die Algen bei dem Prozess vermehren, machen sich die Betreiber sogar zunutze: Der Überschuss wird zu Biogas verarbeitet, um Wohnungen mit erneuerbarer Energie zu beheizen.
Doch nicht nur in Städten produziert der Mensch Treibhausgase: Mehr als zehn Prozent aller Emissionen entstehen in der Landwirtschaft. An mehreren Orten der Welt kamen Landwirte und Biologen auch hier auf die Alge: So brachte ein kanadischer Farmer 2007 ein Futter mit Rotalgen auf den Markt, das Rinder weniger rülpsen und pupsen ließ – und lieferte damit seinen Beitrag zum Klimaschutz. Christian Wilhelm, Leiter der Abteilung Pflanzenphysiologie der Uni Leipzig, bestätigt dem ARTE Magazin: „Algen haben großes Potenzial für die Tierernährung und können Anbauflächen für die menschliche Ernährung entlasten.“
Wilhelm war es auch, dem es 2019 gelang, Algen mit dem passenden Verhältnis von Sauerstoff und Kohlendioxid so zu bearbeiten, dass sie nicht mehr wachsen, sondern Glykolat bilden. Aus dieser Vorstufe von Zucker lässt sich Biomethan herstellen – ein potenzieller Energieträger der Zukunft. Im Gegensatz zur Biosprit- und Heizwärme-Erzeugung aus Mais oder Raps umgeht Wilhelm so den Konflikt Teller versus Tank.
Selbst die ungeliebte Blaualge, die sich in Gewässern schnell vermehrt und für uns lebensbedrohlich werden kann, bringt aus Forschersicht Gewinn: Ein Team der Uni Marburg untersucht die Einzeller, um Biokraftstoff für Flugzeuge zu gewinnen. Daneben testete die Jacobs University in Bremen andere Mikroalgen – und machte 2010 gar einen Testflug mit Algen-Sprit und Kerosin.
Auch auf der Suche nach umweltfreundlichen Verpackungsmaterialien nehmen Experten verstärkt die Alge ins Visier. Neben essbaren To-go-Behältern, die die Hochschule Bremerhaven aktuell testet, gibt es schon erste Prototypen für USB-Sticks und Blumentöpfe, produziert in der bretonischen Stadt Saint-Malo. Auch die Universität Tel Aviv entwickelt Bioplastik aus dem Meer.
Wir müssen die Alge noch produktiver machen. Ich bin aber optimistisch, dass wir das schaffen
Die Technische Universität München stellt Carbonfasern aus Algen her. Aus ihnen können Konstruktionsmaterialien gefertigt werden, deren Produktion CO₂-negativ ist. Sogar die Textilbranche tüftelt mit Materialien aus dem Meer, etwa mit der vom deutschen Unternehmen Smartfiber entwickelten „SeaCell“ – einer nachhaltigen Faser aus Braunalgen und Zellulose. Daneben reißt sich die Medizin um Erkenntnisse aus dem Algensalat der Welt: in der Augenheilkunde, gegen Alzheimer oder Krebs. Der hohe Anteil an Vitaminen und Antioxidantien macht sie zudem für die Kosmetik interessant. Und die Welternährungsorganisation (FAO) sieht unter anderem Tang als alternative Proteinquelle für die wachsende Weltbevölkerung.
Auch wenn Algen langsam Einzug in unseren Alltag halten – die Wissenschaft steht noch am Anfang: Rund 500.000 Algenarten gibt es, etwa zehn Prozent sind erfasst und nur wenige werden industriell genutzt. Die Forschung interessiert sich vor allem für die verschiedenen Algenöle – doch noch ist der Ertrag gering, Energieverbrauch und Kosten dagegen sind hoch. Forscher wie Carola Griehl vom Kompetenzzentrum Algenbiotechnologie der Hochschule Anhalt in Köthen suchen daher nach neuen Algen und effizienteren Wegen: „Wir müssen unsere Alge produktiver machen. Ich bin aber optimistisch, dass wir das schaffen.“ Mit einer flächendeckenden industriellen Nutzung rechnet Griehl in 20 bis 40 Jahren. Auch Christian Wilhelm arbeitet auf den Realbetrieb hin und hofft in einigen Jahren auf eine Pilotanlage zur Biomethan-Erzeugung: „Dann wird man sehen, ob der nächste Schritt in die industrielle Umsetzung realistisch und sinnvoll ist.“