Eine Herde Kaschmirziegen streift durch die Straßen des walisischen Seebads Llandudno. In indischen Metropolen toben Affenhorden rund um Swimmingpools luxuriöser Wohnanlagen. Und hierzulande stoßen Wildschweinrotten noch selbstverständlicher als sonst in Parks und Gärten vor.
Solche Bilder flimmerten während der coronabedingten Lockdowns in den vergangenen knapp zwei Jahren wiederholt durch News-Kanäle und soziale Netzwerke. Ob und wenn ja mit welchen Folgen sich die Natur in der Ausnahmesituation der Pandemie Räume vom Menschen (zurück-)erobert hat, dieser Frage geht die zweiteilige ARTE-Dokumentation „Leere Straßen, Revier der Tiere“ nach.
Das Phänomen beschäftigt inzwischen Forscher rund um den Globus. Nicht zuletzt die Zufallsaufnahmen kurioser Wildtier-Trips in unsere Städte waren ein Auslöser für die Mitte 2020 gestartete Covid-19 Bio-Logging-Initiative. Gut 500 Forscherinnen und Forscher haben sich der Untersuchung angeschlossen, von Feldbiologen über Bewegungsökologen bis zu Datenspezialisten. Sie alle können nun auf mehr als eine Milliarde GPS-Daten von 13.000 Tieren zurückgreifen, die mit Minisendern – sogenannten Bio-Loggern – ausgestattet sind. Insgesamt 170 Arten zählen dazu, vom winzigen Singvogel bis zum Wal.
„Wir Wissenschaftler saßen ja auch zu Hause und sahen diese Handyfilme“, so Mitinitiator Christian Rutz, Biologieprofessor an der schottischen University of St Andrews und Präsident der International Bio-Logging Society, im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Manches sei erkennbar Internet-Fake gewesen, anderem gehen die beteiligten Experten nun auf den Grund. Was war wirklich außergewöhnliches tierisches Verhalten, was nahmen die Menschen vorm eigenen Fenster bloß anders wahr in ihrer erzwungenen Häuslichkeit?
Auszeit vom Menschen
Ihre GPS-Tracker trugen die Wildtiere schon vor der Pandemie und sammelten so Bewegungsdaten vor, während und nach den Lockdowns. „Es wusste ja keiner, was da auf uns zukommt“, sagt Rutz, der für den Lockdown-Effekt mit seinen Kollegen den Begriff Anthropause geprägt hat. Die Welt nahm quasi eine Auszeit vom Menschen. Wobei dem Biologen wichtig ist, dass bei aller Euphorie über die ungeplante Versuchsanordnung niemand die fatalen Folgen der Pandemie verdrängt: „Wir haben auch Familie, und wir haben geliebte Menschen verloren.“
Rutz ist optimistisch, dass die gesammelte Expertise aus der Corona-Tragödie wertvolle Einblicke in das Zusammenleben von Mensch und Tier geben kann. Aus den Resultaten sollen später konkrete Handlungsempfehlungen entstehen, etwa für politische Prozesse in der Stadtplanung. „Anfänglich hieß es: Das Einzige, was ihr herausfinden werdet, ist, dass die Menschen zu Hause bleiben sollen“, erinnert sich der Wissenschaftler. Aber es gehe eben nicht um einen Dauer-Lockdown, sondern „um innovative Ideen, die bessere Bedingungen für die Tierwelt schaffen, mit der wir den Lebensraum teilen“. Und das, ohne die Lebensqualität der Menschen zu beeinträchtigen.
Ansätze für tierfreundlichere Infrastruktur gibt es bereits: Wildbrücken oder Krötenzäune und -tunnel zum Beispiel. Aber gerade in den Städten mit ihrer oft erstaunlichen Artenvielfalt bleibt viel zu tun. Gegen die massive Lichtverschmutzung etwa, die neben Vögeln vor allem Insekten bedroht. Die Naturschutzorganisation BUND rät zu Leuchtmitteln mit geringem Blauanteil im Licht. Die lassen Insekten eher kalt. Außerdem: zu gekapselten Lampengehäusen, die außen weniger heiß werden. Wird doch mal ein Nachtfalter angelockt, verschmort er zumindest nicht.
Am besten wäre für Tiere wohl der Verzicht aufs künstliche Licht. Aber nicht nur dabei entsteht ein Zielkonflikt, den Wildtierforscher, die wachsende Zunft der Stadtökologen und Planer auflösen müssen. Bis zur harmonischen Nachbarschaft von Mensch und Tier ist es oft ein weiter Weg.
Die Kaschmirziegen von Llandudno sind übrigens mittlerweile wieder ins Naturreservat Great Orme zurückgekehrt. Aber auch abseits urbaner Areale lauern Probleme: Unlängst musste die Küstenwache Touristen von lebensgefährlichen Kletterpartien an der gischtumschäumten Steilküste für ein paar Selfies mit den Ziegen abhalten.