Ein Mann bekommt eine SMS. Darin steht, dass er noch zwölf Jahre, neun Monate und fünf Tage zu leben hat. Der Mann bleibt stehen. Er setzt sich auf eine Bank. Und dann schlägt er die Augen auf: Wir sehen mit ihm die Welt wie zum ersten Mal. Ein Staunen liegt in seinem Blick, ein Entsetzen und zugleich demütige Entschlossenheit.
Was macht es mit uns, wenn wir daran erinnert werden, dass wir sterben müssen? Die existenzialistische Philosophie beschreibt den Menschen als einziges Lebewesen, das um die eigene Endlichkeit weiß. Dieses Gewahrsein eröffnet einen erweiterten Horizont. Aus „Ich bin“ wird ein „Ich war, ich bin, ich werde sein – bis ich einmal nicht mehr bin“. Zugleich konfrontiert uns das Bewusstsein mit unserer Sterblichkeit mit der konkretesten aller Fragen: Wenn deine Lebenszeit beschränkt ist, was stellst du dann damit an? Wer bist du, wovon träumst du, woran willst du dich erinnern im letzten Augenblick deines Lebens? Große Fragen. Irgendwie auch anstrengend, fast unangenehm. Vor allem, wenn man gerade beschäftigt ist, noch Mails beantworten muss oder einfach nur übers Abendessen nachdenkt. Es gibt einfach immer so viel zu tun!
Auch diese Abgelenktheit ist der existenzialistischen Philosophie nicht entgangen. Begründet wurde sie im 19. Jahrhundert von dem dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, bevor sie dann in Deutschland Martin Heidegger aufgriff und nach dem Zweiten Weltkrieg Jean-Paul Sartre in Frankreich weiterdachte. Mehr noch, die Daseinsvergessenheit des Menschen, die Kierkegaard „Geistlosigkeit“ nannte und Heidegger je nach Anlass „Alltäglichkeit“ oder „Uneigentlichkeit“, ist sogar das zentrale Anliegen besagter Philosophie.
Der Film „Das brandneue Testament“ (2015), aus dem die Geschichte mit der die Lebensdauer anzeigenden SMS stammt, erzählt davon, was passiert, wenn Menschen aus ihrer Daseinsvergessenheit aufwachen. Alles beginnt mit einer häuslichen Revolte: Gott lebt; er ist ein versoffener Sadist, der seine Frau missachtet und seine Tochter Éa schlägt. Doch irgendwann reicht es Éa und sie verlässt die elterliche Wohnung. Um ihr Kommen anzukündigen und die Menschen von der Willkür ihres Vaters zu befreien, schickt sie jedem Menschen auf der Erde eine SMS mit seinen Sterbedaten. Diese existenzialistische Offensive hat im Film ein kollektives Umdenken zur Folge: Kriegerische Handlungen werden eingestellt, Sicherheiten aufgegeben und die Liebe gewagt.
Doch wie kommt man sich abhanden? Träume sterben leise, heißt es. Und auch bei Jean-Claude, dem Mann, der laut Éas SMS nur noch zwölf Jahre zu leben hat, ist es einfach so passiert. Aus dem abenteuerlustigen Kind ist ein Angestellter geworden, der „Lebenszeit gegen Geld zur Verfügung stellte und dafür einen Scheißjob mit Scheißarbeitszeiten bekam“. Wir sehen ihn zwischen Bett, Küche und Arbeitsplatz umhertaumeln, die Augen dumpf wie die eines gefangenen Tieres. Bis ihm die Gewissheit des eigenen Todes ein neues Leben schenkt.
Anwesend, wach und aufmerksam sein
Aber auch im echten Leben ist es immer möglich, sich bewusst zu machen, dass die eigene Zeit auf Erden begrenzt ist. Dass kein Augenblick je wiederkommt, und dass es an einem selbst liegt, ob man wie ein Statist im eigenen Dasein rumsteht oder bewusst lebt. Ein bewusstes Leben beginnt damit, sich das eigene Dasein zu vergegenwärtigen und sich zugleich vom Leben berühren zu lassen: sich dem zu stellen, was war, was ist und was kommt – also anwesend, wach und aufmerksam zu sein in den hellen und den dunklen Stunden des eigenen Lebens. Der Sinn aller Endlichkeit ist das Heimkommen. Doch was ist der Sinn des Lebensganzen?
Angesichts der aktuellen Weltlage – Erderwärmung! Müllberge! Selbstmordattentäter! – scheint die Vorstellung, die Menschheit sei zur Belustigung eines sadistischen Gottes erschaffen worden, nicht ganz abwegig. Vor allem, weil man dann nichts ändern kann. Und nichts ändern muss. Doch unsere Welt wird von Menschen gemacht. Gestaltet. Und verantwortet. Da uns niemand sagt, wie wir leben sollen, müssen wir diese Frage immer wieder selbst beantworten. Und nur, weil es abseits von Religionen scheinbar keinen übergeordneten Sinn des Ganzen gibt, können wir Menschen selbst Sinn aus unserem Leben und Zusammenleben machen. Doch diesen Sinn stellen wir nicht nur her, er stellt sich auch ein. Er stellt sich ein, wenn wir unserer eigenen Position im Ganzen des Lebens gerecht werden und dadurch die Abstände und Näheverhältnisse zwischen den Dingen stimmen, die Rhythmen und Resonanzen. Wenn eine lebbare Ordnung herrscht, die so viele Formen haben kann, wie es menschliche Behausungen gibt, in denen man sich wohlfühlen, beheimaten kann.
Sinn entsteht also, wenn wir uns im Leben und Zusammenleben mit allem, was ist, zurechtfinden. Wobei wir den Sinn des einzelnen menschlichen Lebens darin sehen können, eine der unendlich vielen Seinsmöglichkeiten darzustellen und auf diese Weise einen individuellen Beitrag zur allgemeinen Entfaltung des Lebens zu leisten. Jeder von uns ist ein Lied, das es nur einmal gibt. Deshalb soll der Mensch werden, wer er ist, sagt Kierkegaard. Die wahre Aufgabe des Menschen ist es, zu sich selbst zu kommen. Und obwohl jedes Leben wertvoll ist, lässt sich so ein selbst-bewusstes Leben als eines beschreiben, an dessen Ende man sagen kann: „Ich habe gelebt. Ich habe gesungen. Ich war da.“
Habe ich genug gewagt, geliebt, gegeben?
Aber – denken wir an die Filmfigur Jean-Claude und ihr „Scheißleben“ – es ist eben auch ganz leicht möglich, sich selbst aus den Augen zu verlieren. Denn jeder junge Mensch orientiert sich zunächst an dem, was man dort, wo er oder sie lebt, gerade denkt und tut und lässt. Dieser Selbstverlust ist vollkommen normal, alltäglich – die Frage ist nur, wie fremd man sich wird und wie leicht es einem an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit gemacht wird, zu sich zurückzufinden. Jean-Claudes Geschichte ist ja nicht nur die Geschichte eines persönlichen Unvermögens, sie illustriert auch, wie dürftig, ja lebensfeindlich der Sinn des Lebens einer auf Leistung, Konkurrenz und Profitmaximierung getrimmten Gesellschaftsform wie der unseren ist.
Doch wie anders leben? Wohin zurückkehren, nicht nur als Einzelne, sondern auch als Gesellschaft, der nach Jahrzehnten des inneren und äußeren Ausverkaufs ebenfalls zunehmend Lebenslust und Lebenssinn verloren gegangen sind? Vielleicht ist das märchenhafteste Element von „Das brandneue Testament“ nicht der versoffene Gott, sondern die Leichtigkeit, mit der die Menschen wissen, was sie wirklich wollen. Jean-Claude beispielsweise erhebt sich nach einer Weile von seiner Parkbank und läuft los. Er dringt in den hohen Norden vor, wird eins mit der Landschaft und findet sein Lied beim Dirigieren wilder Vogelschwärme. Doch was kann man tun, wenn man gar nicht mehr weiß, wer man eigentlich ist und was man eigentlich will?
Wenn man total die Orientierung verloren hat, kann es helfen, darüber nachzudenken, was einen neidisch macht, also was ein anderer Mensch erreicht, vollbracht oder durchdrungen hat. Um sich dann, anstatt zu missgönnen, davon inspirieren zu lassen. Natürlich ist auch der Tod ein guter Anwalt unserer wahren Wünsche, denn mitten im hektischen Alltag erinnert uns der Blick auf die eigene Endlichkeit daran, bewusst zu leben. Was will ich, wonach sehne ich mich, was muss ich noch in Ordnung bringen? Habe ich genug gewagt, geliebt, gegeben?
Letztlich sind all diese Wege und Rückwege perspektivische Tricks. Denn wie schon der römische Philosoph Epiktet in seinem „Handbüchlein der Moral“ formuliert: Nicht die Dinge beunruhigen uns, sondern unsere Meinungen über die Dinge. Wir können wenig dafür, was uns geschieht, doch alles dafür, wie wir damit umgehen. Hier treffen sich unsere individuellen und kollektiven Gestaltungsmöglichkeiten mit der Offenheit der Zukunft, die davon bestimmt wird, woran wir unser Handeln in der Gegenwart orientieren.
Doch erinnern wir uns – wir stellen Sinn nicht nur her, er stellt sich auch ein. Das, was wir suchen, ist auch das, was uns sucht. Weil es letztlich nicht darauf ankommt, was wir vom Leben erwarten, sondern darauf, was das Leben von uns erwartet.
Dennoch bleibt festzuhalten, dass der Sinn dieses Lebens nicht nur darin besteht, es bewusst auf die je eigene Weise zu leben, sondern ebenso darin, es miteinander zu teilen. Die zwei bislang umfassendsten Studien bezüglich der Frage, was uns Menschen wirklich glücklich macht – die Glueck Study und die Grant Study –, haben diesbezüglich herausgefunden, dass weder Geld noch Status noch Selbstverwirklichung uns Menschen wahrhaftig erfüllen, sondern echte und tiefe Beziehungen zu anderen Menschen. Dabei geht es weder um die Anzahl der Freunde oder darum, ob man in einer romantischen Beziehung steckt. Es ist allein die Qualität der nahen Beziehungen, die zählt. Das größte Glück des Menschen ist und bleibt der andere Mensch.
Doch die Alltäglichkeit von Eigennutz, Konkurrenz und Profitstreben entfremden uns nicht nur von dem Glück, das wir einander sind, sie gefährdet auch die lebendigen Beziehungen, die wir zu unserer Umwelt haben. Mittlerweile befindet sich unser Wirtschaftssystem auf Kriegsfuß mit dem planetaren Ökosystem. Die bereits stattfindenden Klimaveränderungen inklusive des näherkommenden Tipping Point der irreversiblen Erwärmung können wir als eine Art SMS-Gewitter mit den Sterbedaten unserer Spezies verstehen. Denn nicht die Natur ist bedroht, sondern unser eigener Lebensraum in ihr.
Unsere gemeinsame Zukunft wird davon bestimmt, wie wir mit dieser Möglichkeit unserer kollektiven Endlichkeit umgehen. Und ganz wie beim Einzelnen beginnt auch die gemeinsame Rückkehr zu einem bewussten und sinnvollen (Über-)Leben damit, uns zu fragen, wie es uns gelingen kann, wieder mehr in die Welt hineinzugeben, als wir herausnehmen. Ein anderer Ausdruck für diese Haltung ist Liebe.