Ein Sprengel von knapp zwei Dutzend heruntergekommenen Häusern und Hütten an einer maroden Straße, die ins Nirgendwo führt. Realidade im brasilianischen Bundesstaat Amazonas sieht nicht so aus, als spielte der Ort für das Weltklima eine wichtige Rolle. Das täuscht: Präsident Jair Bolsonaro will die in den 1970er Jahren gebaute Piste, die durch den Ort führt, sanieren lassen. Damit gibt er das Startsignal für Unternehmen, die die Verbindung zwischen Manaus und Porto Velho im Bundesstaat Rondônia nutzen wollen, um tiefer als bisher in den Dschungel vorzudringen – auf der Suche nach Bodenschätzen und Agrarflächen.
Ein fatales Signal: „Rund 17 Prozent des Amazonasregenwalds sind bereits zerstört“, sagt Carlos Nobre, Klimaforscher an der Universität São Paulo. „Wenn die BR-319 wieder befahrbar wird und die Abholzungen weitergehen, steuern wir immer schneller auf einen kritischen Punkt zu.“ Denn sobald 20 bis 25 Prozent des brasilianischen Regenwalds durch Rodungen zur Savannenlandschaft werden, warnt Nobre, seien die Ziele des Pariser Abkommens von 2015 nicht mehr erreichbar. Die BR-319 würde ein weiterer Highway in die Klimahölle.
Allen Warnungen zum Trotz wird der Bau von Straßen durch das brasilianische Hinterland schonungslos vorangetrieben, wie eine jüngst veröffentlichte Reuters-Recherche zeigt: Demnach seien etwa für den Bau der Staatsstraße BR-364 und infolge der Erschließung von Nutzflächen bis 2018 rund 44 Prozent des Baumbestands in Rondônia abgeholzt worden.
Bulldozer und Kettensägen, die in entlegenen Regionen des Landes wüten, schaden nicht nur der Vegetation und dem Klima. Auch die indigene Bevölkerung ist bedroht, berichtet Albert Knechtel in der ARTE-Doku „S.O.S. Amazonas“. Im Sommer 2019, als sogar in der 3.000 Kilometer entfernten Metropole São Paulo Rauchschwaden durch die Luft zogen und der brennende Regenwald weltweit die Schlagzeilen dominierte, besuchte der Regisseur Angehörige des Stammes der Uru-Eu-Wau-Wau in Rondônia. Was er dort erlebte, war erschreckend.
„Seit Bolsonaro an der Macht ist, hat sich unsere Lage dramatisch verschlechtert“, sagt Awapy, 38-jähriges Oberhaupt einer Uru-Eu-Wau-Wau-Gruppe. Die Anzahl der Überfälle auf ihr Reservat sei „sprunghaft gestiegen“. An den Grenzen des Areals herrsche Krieg. Oft würden die Angriffe von Banden und Siedlern verübt, die im Auftrag von Minen-, Bau- und Agrarkonzernen die Bewohner des 1,8 Millionen Hektar großen Gebiets vertreiben sollen. Sicher fühlt sich dort niemand, denn der 1990 mit der Behörde für indigene Angelegenheiten (FUNAI) geschlossene Vertrag ist kaum das Papier wert, auf dem er steht: Auf Druck des Agrarlobbyisten und Präsidentenberaters Nabhan Garcia hat Staatschef Bolsonaro unlängst angeordnet, alle indigenen Einwohner in die Gesellschaft zu integrieren, damit sie „nicht mehr so leben müssen wie Tiere im Zoo“. Zugleich strich er das Budget von FUNAI empfindlich zusammen.
Landnahme aus Profitgier
Die vermeintliche Sorge des Präsidenten um das Wohlergehen der Ureinwohner ist nur Fassade; letztlich geht es um Devisen. Je mehr Reservate geräumt werden, desto größere Flächen können Investoren und Konzerne erschließen und ausbeuten; die staatlichen Steuer- und Pachteinnahmen steigen. Politischen Widerstand in Sachen Umwelt und Ureinwohnern hat der Staatschef direkt nach dem Wahlsieg im Ansatz erstickt, als er Umwelt- und Landwirtschaftsministerium unter der Leitung eines Parteifreunds zusammenlegte. Und als das brasilianische Institut für Weltraumforschung im August dieses Jahres Satellitenbilder der Amazonasbrände veröffentlichte, entließ er prompt dessen Direktor Ricardo Galvão sowie zahlreiche Mitarbeiter, weil die Publikation angeblich dem Ansehen des Landes schadete.
Den US-Agrarkonzern Cargill, einen von Bolsonaros größten Profiteuren, stören derlei Vorgänge nicht. Einer Untersuchung der Umweltschutzorganisation Mighty Earth zufolge ist das in Minneapolis ansässige Unternehmen für die meisten Rodungen im Amazonasgebiet verantwortlich und soll sich zudem illegal Land angeeignet haben. Auf den Agrarflächen betreibt Cargill riesige Sojaplantagen. Die Ernten fließen in die Fleischproduktion, die wiederum in den Händen von Konzerntöchtern liegt. Deren Hauptkunden sind Supermärkte wie Walmart und Fastfood-Ketten wie McDonalds.
Trotz der Enthüllungen der Mighty-Earth-Studie gibt sich Cargill-Chef David MacLennan gelassen. Sein Unternehmen werde „die Sache sorgfältig prüfen und geeignete Maßnahmen ergreifen“, ließ er im Juli die New York Times wissen. Derweil gehen die Rodungen am Amazonas unvermindert weiter.
Seit Präsident Bolsonaro an der Macht ist, hat sich unsere Lage dramatisch verschlechtert.