Kann das wahre Heilung sein?

Debatte Homöopathie, Osteopathie, Reiki und andere alternative Heilmethoden sind umstritten. Und doch schwören Millionen Menschen darauf. Woher kommt die Sehnsucht nach sanfter Medizin?

Alle Jahre wieder liefern sich Kritiker und Befürworter der Homöopathie einen medialen Schlagabtausch. In den vergangenen Monaten war die Debatte besonders heftig. Angestoßen wurde sie, als ein Arzneimittelhersteller mit Unterlassungsabmahnungen gegen eine Homöopathie-Kritikerin vorging. ­„Globukalypse now!“ titelte Zeit Online daraufhin, die Welt warnte vor „gefährlichen Doktorspielen“ und auch ZDF-­Satiriker Jan ­Böhmermann widmete der Homöopathie einen 20-minütigen, bitterbösen Beitrag („Verdünnen, schütteln, Scheiße labern“).

DIE SENDUNG AUF ARTE

Die Wissenschaftsdoku „Osteopathie: Heilen mit den Händen“ gibt  es am Samstag, 22.2. ab 22.00 Uhr auf ARTE sowie bis 20.2. 2021 in der Mediathek.

Wissenschaftlich wähnen sich die Kritiker auf der sicheren Seite, denn groß angelegte Untersuchungen konnten tatsächlich bislang keine Belege für die medizinische Wirksamkeit der homöopathischen Mittel feststellen. Das Wundersame? Der Beliebtheit bei Patienten tut das keinen Abbruch. Millionen von Menschen vertrauen auf die Homöopathie, genau wie auf viele andere Methoden, die Skeptiker „Scheinmedizin“ nennen, darunter Akupunktur, Osteopathie, Reiki und Chiropraktik. Bis zu 250 Euro pro Jahr zahlt jeder fünfte Deutsche für alternative Behandlungen. Allein für homöopathische Mittel waren es 2018 insgesamt mehr als 670 Millionen Euro.

Komplementär- oder Alternativverfahren – das klingt nach Überschaubarkeit: hier die klassische Medizin, dort ergänzende Behandlungen, die helfen sollen, wo Hausarzt, Orthopäde, Internistin nicht weiterkommen. Aber einfach ist in diesem Verhältnis wenig, auch nicht die Antwort darauf, warum Menschen auf Globuli, Chakren, Irisdiagnostik setzen. Zwei ARTE-Dokumentationen greifen diese Frage im Februar auf. Die Sendung „Homöopathie: Sanfte Medizin oder Hokuspokus?“ beschäftigt sich mit Entstehungsgeschichte, Prinzipien und Wirksamkeit der wohl bekanntesten Komplementärbehandlung. Der Film „Osteopathie: Heilen mit den Händen“ beleuchtet die manuelle Therapie und ihren Umgang mit dem Vorwurf, ihre Erfolge seien nicht wissenschaftlich belegt. Letzteres treibt vor allem Kritiker um – dass laut Wissenschaft unwirksame Methoden ausgerechnet zu einer Zeit so beliebt sind, in der Neurologen kurz davor stehen, die Ursachen von Parkinson zu finden, in der Krebspatienten dank moderner Diagnostik und Therapien bessere Überlebenschancen haben denn je und in der Heilung durch Gentherapien immer wahrscheinlicher wird.

Dabei schließt das eine das andere nicht aus, sagt ­Urban ­Wiesing. Der Mensch sei nicht gemacht für ein Leben, das allein auf geprüftem Wissen basiere, vermutet der Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der Eberhard Karls Universität Tübingen: „Gerade in Grenzsituationen gibt es ein Bedürfnis, auf Bereiche zurückzugreifen, die sich der Entzauberung bislang widersetzt haben.“ Komplementärmethoden als Metaphysik, die etwas über die Entfremdung des Menschen von dem verraten, was der Philosoph Karl ­Jaspers „das Umgreifende“ nennt – das passt in diese Welt mit ihrem Primat der Zahlen und Technologien. Oder wie es ­Wiesing formuliert: „In dem Augenblick, in dem wir uns anschicken, die Natur zu zerstören, versuchen wir, ihr positive Eigenschaften zu unterstellen, zum Beispiel, indem wir sogenannte Naturheilverfahren als klug erachten.“

Die klassische Medizin fungiert heute oft als Akutmedizin

Marina Fuhrmann, Professorin für Osteopathie

„Wer heilt, hat recht!“

Befürworter alternativer Therapien halten dagegen, wer heile, habe recht. Die Welt­gesundheitsorganisation (WHO), die als höchste Instanz in Fragen der Gesundheit gilt, sieht in den Verfahren „eine oft unterschätzte Ressource“. Dass sie in 170 von 194 Mitgliedsstaaten Teil des Gesundheitssystems sind – auch in Deutschland und Frankreich –, befürwortet die WHO. Gleichzeitig fordert sie Belege, dass es sich um mehr als Scheinbehandlungen im Sinne des Placebo-­Effekts handelt. Dessen Wirkung ist durch Studien belegt: Patienten stellen eine Besserung fest, obwohl sie keine wirksame Behandlung erhalten, weil sie einer Autosuggestion aufsitzen. Schon die Erwartung, Hilfe zu finden, lässt den Körper Neurotransmitter und Hormone ausschütten und man fühlt sich gesünder. Auch der Behandelnde kann zum Placebo werden. Ein Heilpraktiker, der zuhört, baut beim Patienten Ängste ab. Das Belohnungssystem des Gehirns reagiert darauf mit der Freisetzung von Endorphinen. So beeinflusst das Gefühl, in guten Händen zu sein, manche Therapie.

„Daraus könnte man Anregungen für die Medizin insgesamt übernehmen“, findet ­Claudia Witt. Die habilitierte Medizinerin und Epidemiologin leitet das Institut für komplementäre und integrative Medizin am Universitätsspital Zürich, dem einzigen völlig unabhängig finanzierten Universitätsinstitut für Alternativverfahren im deutschsprachigen Raum. Bei bestimmten Erkrankungen wenden die Züricher Experten Yoga und Qigong an; beide Mind-Body-Verfahren verbesserten in evidenzbasierten Studien die Lebensqualität von Patienten nachweislich. Auch Akupunktur kommt zum Einsatz, andere Methoden nicht – mangels Wirksamkeit. Warum sich Menschen trotz fehlender Belege allen möglichen Heilverfahren zuwenden, kann Witt dennoch nachvollziehen: „Wir haben in der konventionellen Medizin das Problem, dass wir den Menschen in Körperregionen aufspalten. Komplementärmediziner schauen dagegen oft erst die Gesamtsituation an, um ein möglichst umfassendes Behandlungskonzept zu entwickeln. Dort spielt auch das Zusammenspiel von Körper und Psyche eine Rolle.“

Der Wunsch, ganzheitlich gesehen zu werden und eine Behandlung zu finden, die Selbstheilungskräfte aktiviert – er ist so alt wie viele Komplementärverfahren. Einige waren eine Antwort auf die „heroische Medizin“ des 18. Jahrhunderts, die so hieß, weil man viel Mut aufbringen musste, um sich Aderlass, Quecksilber­behandlungen und grausamen Operationstechniken zu unterziehen. Sie gehörten damals zur Hochschulmedizin. „Gifträthe“ und „Todesgarde“ wurden Ärzte deshalb von Naturheilern wie dem Homöopathie-Begründer ­Samuel ­Hahnemann genannt. Und der Urkonflikt hat sich über die Jahrhunderte verschärft. Alles, was einen ganzheitlichen Ansatz verspricht, scheint willkommen, um dem Einfluss von „Big Pharma“ zu entgehen. Dass die Deutsche Homöopathie-­Union und der weltweit führende Homöopathie-­Hersteller Boiron aus Frankreich dreistellige Millionen-­Umsätze erzielen und Pharma-­Verbände für sie genauso aktiv werben wie für konventionelle Medikamente, wird dabei leicht übersehen. Womöglich fehlt Patienten die Zeit, sich darüber zu informieren, denn Zeit ist ja immer knapp – beim Kranksein-Dürfen erst recht. So fällt die Zahl der Fehltage im Beruf heute deutlich niedriger aus als in früheren Jahrzehnten. Sich bei einer ernsten Erkältung mit Temperatur und Erschöpfung einfach eine ganze Woche ins Bett zu legen, sei heute oft undenkbar, kritisiert ­Wiesing.

„Teilweise wurde es schlimmer“

Die Erfahrung, dass Menschen möglichst schnell gesund werden wollen, hat auch ­Marina ­Fuhrmann gemacht. Zeitdruck und Misstrauen in die klassische Medizin hält die Vorsitzende des Verbands der Osteopathen Deutschland aber nicht für ausschlaggebend für den Erfolg der Alternativmedizin. Wie die Epidemiologin Witt glaubt ­Fuhrmann an den anderen Blick auf den Patienten. Sie selbst hat ihn in den 1980ern kennen und schätzen gelernt. Als Physiotherapeutin behandelte sie oft Patienten mit ähnlichen ärztlichen Diagnosen: „Bei den einen schlug die Behandlung an. Bei den anderen konnte ich nichts ausrichten, teilweise wurde es sogar schlimmer.“ Auf der Suche nach Antworten fand ­Fuhrmann zur Osteopathie, absolvierte eine fünfjährige Weiterbildung. Dabei erkannte sie, dass die Ursachen eines Leidens nicht immer dort liegen, wo die Beschwerden auftreten. Seither nimmt sie sich eingehend Zeit, um zum Beispiel Migränepatienten zu helfen, die nicht noch mehr Tabletten nehmen wollen, oder Patienten mit Bandscheibenvorfall, denen Ärzte zur OP raten.

Es sei besorgniserregend, wenn Menschen dringend notwendige medizinische Therapien aufschieben oder ganz darauf verzichten, um erst mal etwas anderes zu probieren, findet ­Fuhrmann. Aber wenn jemand einfach Linderung suche und dafür eine wirksame Behandlung wähle, die weniger stark in den Körper eingreife, sei das eine gute Entwicklung. Es zeuge von Eigenverantwortung und Aufgeklärtheit. Beides ist wichtig, sagt die Professorin für Osteopathie an der Hochschule Fresenius, die sich für die Professionalisierung ihres Berufs und Forschungsbereichs einsetzt, gleichzeitig aber auch Patienten mit Wissen versorgt sehen will: „Sie sind mündig geworden und informieren sich. Und die Zahlen für die Osteopathie zeigen, dass sie mittlerweile in Deutschland angekommen ist, was sich nicht mehr zurückdrehen lassen wird.“

Letzteres gilt heute für fast alle Komplementärverfahren. Anhänger der Alternativmedizin bestehen beim Arzt auf Mitbestimmung. Laut Untersuchungen haben sie häufiger Einwände gegen ärztliche Behandlungsvorschläge und wechseln, wenn sie es für nötig halten, auch die Praxis. Oft sind es gut ausgebildete Akademiker, die es gewohnt sind, selbstbestimmt zu entscheiden, im Beruf wie im Alltag. „Machbarkeit ist ein wichtiger Teil ihres Selbstverständnisses“, beobachtet Medizinethiker ­Urban ­Wiesing. „Alles ist eine Frage der Anstrengung. Und wenn du krank bist und womöglich auch noch länger, dann hast du dich nicht genug angestrengt.“ Also nutze man klassische und Komplementärmedizin parallel und in der Hoffnung, nicht lange auszufallen oder leiden zu müssen. Das erklärt, warum vor allem chronisch Kranke auf die Verfahren setzen: „Die klassische Medizin fungiert heute oft als Akutmedizin. Aber bei chronischen Symptomatologien kann man mit Medikation oder Operationen nicht alles erreichen“, sagt Osteopathin ­Marina ­Fuhrmann.

Dass die Übernahme der Kosten durch Krankenkassen in Deutschland kritisiert wird, dass in Frankreich die Zuschüsse für Homöopathie im Jahr 2021 aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen fallen werden, wird am Zuspruch zur Komplementärmedizin nichts ändern. Fast 60 Milliarden US-Dollar betrug der weltweite Umsatz zuletzt. Bis 2026 soll er um 17 Prozent wachsen, sagen Marktforscher.

Neben vielen kleinen Gründen hat das vor allem einen großen: Das Leben schert sich nicht um die menschliche Sehnsucht, frei von Krankheit, Verletzung und Tod zu leben. Akupunktur, Homöopathie, Yoga, Akupressur, Shiatsu, Bachblüten, Mesotherapie, Osteopathie, Reflexzonenmassage – der Erfolg der Alternativtherapien ist eben auch eine Geschichte des Scheiterns: die des Menschen an seiner eigenen Endlichkeit.