Der Lette Andris Nelsons zählt zu den begabtesten Dirigenten der jüngeren Generation. Er feiert dieser Tage seinen 41. Geburtstag, ist Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra und Kapellmeister des Leipziger Gewandhauses – leitet also zwei der renommiertesten Häuser der Welt. Zum Interview empfängt er im Chefzimmer des Gewandhauses, einem edlen Eckbüro, in dem einst Kurt Masur residierte. Drei Trompeten liegen in der Sitzecke, auf dem Fensterbrett steht ein seltener japanischer Whisky, eine Vitrine ist vollgestopft mit Hunderten seiner CDs. Nelsons trägt ein Poloshirt in dezentem Veilchenton und Designer-Sneakers. Wenn er spricht, schaut er verträumt nach oben, denkt nach, lächelt dann wieder. Nie wirkt er wie ein unnahbarer Virtuose – eher wie das sympathische Genie von nebenan. Mit den Wiener Philharmonikern hat Nelsons die neun Symphonien Beethovens eingespielt, eine CD-Box ist erschienen, eine Tournee führt von Februar an über Paris, Hamburg, München und Wien. Nelsons lässt Beethoven klar und durchsichtig spielen, im Tempo nie hastig, beim Zuhören bekommt man ein Gefühl für den inneren Zusammenhalt der einzelnen Sätze.
Herr Nelsons, es gibt etliche Einspielungen der Symphonien, die Herangehensweisen reichen von glatt bis analytisch. Wie funktioniert Beethoven für Sie?
Andris Nelsons: Der Geist Beethovens ist zeitlos, die Fragen und Themen, um die es ihm geht, sind so global verständlich – es geht weniger um Stil und Epoche. Seine Musik ist universell. Sie steckt voller revolutionärer Ideen. Es gibt so viel Sforzando, plötzliche Ausbrüche, das ist schockierend. Die Musik ist sehr spontan und voller Schicksal. Sie steht über den Zeiten. Das ist einfach Beethoven.
Interpretiert ihn deswegen jeder Dirigent anders?
Andris Nelsons: Es stimmt, Toscanini oder Furtwängler, da liegen Welten dazwischen. Oder Nikolaus Harnoncourt, Roger Norrington, Leonard Bernstein, Simon Rattle, sie sind alle großartig und doch ganz verschieden. Aber das berührt den Kern der Musik nicht – die Musik spricht immer über das Gleiche: Liebe, Verzweiflung, Sieg, Niederlage, Tragik. Beethoven hat eine sehr spürbare Energie. Und dann wieder extrem romantische Momente, wie in der sechsten Symphonie. Beethoven denkt immer schon in die Zukunft, weit über seine Zeit hinaus. Er ist stark. Das ist das Wichtigste, nicht so sehr die Dirigenten.
Beethoven hielt sich selten an gängige Formen. Nehmen wir den Anfang der Siebten: Sie beginnt im Vier-Viertel-Takt, wechselt zum zweiten Thema nach sechs Achtel. Kommt nie zurück, obwohl das normal wäre. Und dann ist der Satz mit einem Knall aus. Das wirkte auf die Hörer sicher schockierend. Kann man das noch fühlbar machen?
Andris Nelsons: Ja, das war, genau wie viele Details, ein großer Schock für das Publikum damals! Beethoven soll eine explosive Energie gehabt haben. Für ihn galt nur: 100 Prozent geben oder nichts. Einmal haben die Musiker ihn rausgeschmissen, er musste bei den Proben im Nebenraum sitzen, weil er zu aufbrausend war. Und formal geht es Beethoven immer nur darum, dass das ganze Gebäude steht, und nicht, ob es sich an Vorbilder hält. Die Architektur seiner Symphonien ist ein Wunder – gewagt, aber wunderschön.
Beethoven war eine spontane, revolutionäre Persönlichkeit
Welches Bild haben Sie von Beethoven als Mensch?
Andris Nelsons: Er war offenbar sehr unordentlich, die Partituren sind teils chaotisch aufgeschrieben. Sein Leben war durcheinander, seine Wohnung auch. Er war eine spontane, revolutionäre Persönlichkeit, der es egal war, was andere denken. Er hatte keine Angst davor, anders zu sein. Fangen sie mal eine Symphonie an wie die dritte – zweimal Bam! Bam! „Das ist doch unhöflich“, dachten die Zeitgenossen. Dabei ist es genial. Die Neunte ist wie ein Gespräch mit Gott, die Sechste zeigt im zweiten Satz die reine Naturschönheit. Beethoven kann so viel ausdrücken, es ist erschütternd.
Er soll einmal gesagt haben: „Wer meine Musik hört, der muss frei werden.“ Gilt das noch?
Andris Nelsons: Ich glaube, das ist wahr. Denken Sie an das tragische Leben dieses Komponisten, der schon früh kaum noch hören konnte. Der Vater war ex-trem streng. Seine Musik wurde zuerst nicht verstanden. Beethoven hatte ein konfuses Liebesleben, eine schlechte Gesundheit, trank zu viel Wein. Trotzdem enden seine Symphonien immer in einem großen, erhebenden Triumph. Diese Musik kann heilen, kann Zuversicht geben. Sie sagt: Schaut nach vorn, es gibt eine Zukunft!
Und das ist sonst nicht immer die Botschaft klassischer Musik?
Andris Nelsons: Nein. Schubert erzeugt eine faszinierende Intimität, Schumann ist komplex und fein. Aber die haben alle nicht dieses Heilende, diese Wendung zum Guten. Nur Beethoven ist hoch dosiertes Ibuprofen für die Seele.
Wie erklären Sie das den Musikern?
Andris Nelsons: Es gibt zwei Sprachen beim Proben. Einmal die technische. Man muss gut vorbereitet sein und ausdrücken können, was man musikalisch will. Dann ist da noch die Sprache der musikalischen Fantasie, da geht es um Metaphern und um die Atmosphäre. Musiker wollen darüber viel hören, es hilft ihnen. Ein Dirigent muss auch über den Duft der Rosen reden, so klingt die Musik am Ende besser.
Gelingt das immer?
Andris Nelsons: Das Orchester und ich wollen ja die Musik gemeinsam tiefer verstehen. Wenn ich als Dirigent sage: „Bitte hier länger und da kürzer, da schneller“, dann wird es alles schnell total langweilig. Mit großen Orchestern gibt es eine magische Ebene, ein stilles Verstehen. Dirigenten müssen dem vertrauen. Ich bin kein autoritärer Maestro, weil das nicht funktionieren würde. Wenn die Musiker denken, dass ich alles kontrollieren will, wird es nicht gut.
Das ist eine sehr moderne Auffassung von Dirigent und Orchester. Manche Dirigenten galten als Tyrannen.
Andris Nelsons: Herbert von Karajan hat gesagt, an zwei Orten existiert die Demokratie nicht, der eine ist das Militär, der andere die Musik. Und wissen Sie was? Das stimmt ja auch. Disziplin gehört dazu. Es kann nicht jeder tun, was er oder sie will. Nur darf der Dirigent kein Diktator sein. Aber Beethoven darf das sein, quasi, in einem guten Sinn. Wir alle müssen uns Beethoven unterordnen und dem Publikum etwas geben, was ihm wirklich entspricht.
Man sagt, Sie seien am Pult sehr intuitiv. Was heißt das?
Andris Nelsons: Ich bin sehr selbstkritisch. Ich finde, ich sollte sehr viel über die Partitur und den Komponisten wissen. Aber dann steht man vor dem Orchester und muss Vertrauen aufbauen. Wann darf man mehr Disziplin verlangen, wann muss man sagen, für heute reicht es? All das muss man spüren. Die Musiker wollen sich darauf verlassen, dass Sie wissen, wohin die Reise geht. Aber sie wollen es nicht ständig hören.
Was kann misslingen in diesem Prozess?
Andris Nelsons: Manchmal klappt nichts von dem, was ich vorbereitet habe. Dann muss man in der Lage sein, etwas zu versuchen. Theoretisch kann jeder Dirigentin oder Dirigent sein. Jeder kann die Technik erlernen. Aber es gibt eben noch diesen magischen Teil. Da ist ein Geheimnis, eine Intuition, das Richtige zu tun. Das muss man erspüren.
Die Wiener Symphoniker, mit denen Sie auf Tournee gehen, gelten vielen als bestes Orchester der Welt. Teilen Sie diese Meinung?
Andris Nelsons: Die Wiener haben einen besonderen Sound, die Streicher und die Holzbläser klingen einzigartig. Aber was viel wichtiger ist: Das Orchester und ich wollten zusammen herausfinden, was Beethoven uns bedeutet. Und das haben wir.
Sie haben mit vielen großen Orchestern gespielt. Hat jedes seinen eigenen Charakter?
Andris Nelsons: Es gab eine Zeit, vor 20 Jahren, da herrschte eine übertriebene Globalisierung, alle wollten gleich klingen. Das ist zum Glück vorbei. Das technische Level der Instrumente und der Ausbildung ist heute noch höher. Es gibt alte Aufnahmen, wo Richard Strauss eigene Werke dirigiert, und die sind voller Fehler. Da gab es seither einen großen Entwicklungssprung, die Qualität der Orchester ist enorm. Aber heute gibt es wieder mehr Eigenheiten. Das macht das weltweite Musikleben sehr interessant. Für einen Dirigenten ist es so immer wieder ein Abenteuer. Man kann nicht alle Orchester gleich dirigieren. Ich muss mich auch anpassen.
Sie sprechen viel von der Magie und Mystik der Arbeit. Welchen Stellenwert hat Disziplin?
Andris Nelsons: Ich habe viele Jahre Kampfsport gemacht, Taekwondo. Das lehrt Selbstdisziplin. Wenn man nicht an sich arbeitet, erreicht man nichts. Disziplin macht die Menschen besser, und ich meine das nicht militärisch. Wir haben nur alle zu viel Ego. Bescheidenheit und Respekt können nur entstehen, wenn man spürt, dass man etwas bewirken kann.