Diversität prägt die Familie von Emilia Roig: Ihre Mutter stammt von der Karibikinsel Martinique, der Vater mit jüdisch-spanischen Wurzeln aus Algerien. Eine schwarze Krankenschwester und ein weißer Arzt. Erfahrungen mit Diskriminierung auf der einen und Privilegien auf der anderen Seite begleiten Roigs Leben. In der ARTE-Dokumentation „Projekt Aufklärung: Wie entsteht eine gerechte Welt?“ trifft sie ihren über 90-jährigen Großvater. Der Anhänger des rechtspopulistischen Front National vertritt vor ihr und der Kamera unverhohlen rassistische politische Ansichten. Er ist inzwischen verstorben, die Szene blieb im Film.
arte Magazin Frau Roig, Sie wirken äußerlich ruhig bei diesem Treffen. Wie gelingt einem das?
Emilia Roig Mein Großvater war sehr liebevoll, wir haben ihn oft besucht. Ich bin mit rassistischen, antisemitischen und antimuslimischen Einstellungen groß geworden. Vieles wurde in meiner Familie verharmlost, es herrschte Schweigen und Tabuisierung. Meine jüdische Großmutter war viermal verheiratet. Alle vier Männer waren Antisemiten.
arte Magazin Einen Zwiespalt gab es schon bei Thomas Jefferson, auf den sich die Dokumentation bezieht. Er war Aufklärer und gleichzeitig Sklavenhalter. Hat sich bis heute so wenig geändert?
Emilia Roig Rückblickend kommt es uns absurd vor, dass ein Verfechter von Gleichheit und Gerechtigkeit sich an versklavten Menschen bereichert hat. Aber solche Widersprüche sind immer noch Teil des Systems. Im globalen Norden profitieren wir von ausbeuterischer, sklavenähnlicher Arbeit im Süden. Wir sehen diese Menschen bloß nicht jeden Tag. Oder denken Sie an patriarchalische, frauenverachtende Männer, die verheiratet sind und sagen, sie würden ihre Frauen doch lieben.
arte Magazin Wenn Diskriminierung systemisch ist, kann der Einzelne etwas dagegen ausrichten?
Emilia Roig Wir sind das System und tragen Verantwortung für Veränderungen. Dafür sollten wir begreifen, was Unterdrückung ist; da gibt es große Missverständnisse. Dann gilt es, klare Forderungen zu stellen, etwa gegen rassistische, tödliche Grenzregime. Deren Diskriminierung gründet sich auf Kolonialismus, wegen ihnen sterben täglich Menschen im Mittelmeer. Wir müssen lernen, dass Institutionen, und dazu zählen Grenzen, eben nicht naturgegeben sind. Wir müssen ihre Entstehungsgeschichte hinterfragen.
arte Magazin Und was ist dabei Ihre Aufgabe?
Emilia Roig Meine Rolle besteht nicht in erster Linie darin, Menschen zu sagen, was sie tun sollen. Ich sehe mich als Aufklärerin, die eine andere Perspektive vermittelt. In unserer Gesellschaft gibt es nur eine einzige Erzählung über Ungleichheit, Reichtum, Armut, Erfolg und Scheitern. Die möchte ich gern erweitern.
arte Magazin Sie haben 2017 das Center for Intersectional Justice gegründet. Mit welchem Ziel?
Emilia Roig Oft wird gefragt, ob bestimmte Formen der Unterdrückung überhaupt existieren. Gibt es Sexismus nach MeToo? Ist die Gesellschaft rassistisch? So bleibt man immer an dem Punkt, etwas beweisen zu sollen, statt Lösungen zu finden. Das wollen wir aufs nächste Level bringen. Außerdem ist es zurzeit so, dass zwar ein Dialog geführt wird, aber der verlangt viele Kompromisse von denen, die unsichtbar sind.
arte Magazin Für alle, die den Begriff nicht kennen: Wie lässt sich Intersektionalität erklären?
Emilia Roig Es ist ein Analysemodell, ein Werkzeug und ein politisches Projekt, das dazu dient, Unterdrückung in ihrer Tiefe zu verstehen und zu bekämpfen. Wir bringen damit jene Menschen in den Fokus, die am allermeisten marginalisiert werden. Wir stellen etwa den Zugang zu Ressourcen und politischer Teilhabe sicher. Indem wir ihnen helfen, nehmen wir anderen nichts weg – im Gegenteil, es profitieren alle, die in der Hierarchie über ihnen stehen.
arte Magazin Sind Debatten wie die um Diskriminierung nur etwas für urbane, akademische Eliten?
Emilia Roig Die Vorstellung einer solchen Blase stimmt nur teilweise. Die Teilnehmer an gesellschaftlichen Diskursen gehen ja nach außen. Und die Botschaften sind oft sehr klar: Black Lives Matter zum Beispiel.
arte Magazin In Ihrer französischen Heimat melden sich Intellektuelle sehr engagiert politisch zu Wort, in Deutschland geschieht das seltener.
Emilia Roig Tatsächlich sind es Welten, die sich hier nicht so häufig begegnen. Ich sehe allerdings auch ein Problem darin, dass es in Frankreich oft um Persönlichkeiten geht, um Bekanntheit und Charisma, und nicht unbedingt um Ideen. In dieser Hinsicht könnte Frankreich eher ein wenig nach Deutschland schauen, weil es hier eine größere Pluralität der Stimmen gibt.
arte Magazin Wenn Diskriminierung, wie Sie sagen, in unserem System verankert ist, kann man sie dann überhaupt erfolgreich darin bekämpfen?
Emilia Roig In unserer Welt hängt alles mit allem zusammen. Wenn wir also Grenzregime verändern, müssen wir auch die Bedingungen des Arbeitsmarktes verändern. Und das wiederum bedeutet, dass wir Haus- und Familienarbeit aufwerten müssen.
arte Magazin Ist ein radikaler Umbruch Ihr Ziel?
Emilia Roig Ich bin definitiv eine Revolutionärin. Revolution heißt nichts anderes als Veränderung. Und davon bin ich eine große Verfechterin.