Bademantel und Hausschuhe sind seine Markenzeichen auf der Bühne. Zum Interview in einem Café in Köln, seit neun Jahren die Wahlheimat des Kanadiers, kommt Chilly Gonzales in kurzer Hose, kariertem Hemd und Brille. Ungewöhnlich gewöhnlich wirkt der Musiker, der für seine unkonventionellen, teils skurrilen Auftritte bekannt ist: ob als selbst ernannter und ausrastender Präsident des Berliner Undergrounds im Jahr 2000, beim Aufstellen eines neuen Weltrekords 2009 für das längste Solokonzert (27 Stunden, drei Minuten und 44 Sekunden) oder beim Casting eines Chilly-Gonzales-Doppelgängers im Film „Shut Up and Play the Piano“, den ARTE im Oktober ausstrahlt. Und doch: Trotz all dem Wirbel steht die Musik für den 48-Jährigen, der mit richtigem Namen Jason Beck heißt, im Mittelpunkt. Ein Gespräch über Respektlosigkeit, Schwächen und Enya.
ARTE MAGAZIN Herr Gonzales, sind Sie es wirklich?
Chilly Gonzales Ja, ich bin es. Die Idee mit dem Doppelgänger hat leider nicht funktioniert, falls Sie deshalb fragen.
ARTE MAGAZIN Warum nicht?
Chilly Gonzales Ich hatte diese Fantasie, eine andere Person könne ab und zu Teile meines Jobs für mich übernehmen. Das geht wahrscheinlich jedem Menschen so. Ich habe aber gemerkt, dass meine Musik allein, ohne mich, nicht so kraftvoll wäre. Ich erzähle Geschichten mit ihr und mein Publikum identifiziert sich mit mir und meinem Verhalten auf der Bühne. Und darauf bin ich stolz. Das Casting-Experiment hat mir gezeigt, wie schön es eigentlich ist, dass es nicht ohne mich geht.
ARTE MAGAZIN Sie leben seit mehr als 20 Jahren in Europa – erst in Berlin, dann Paris, mittlerweile in Köln. Fühlen Sie sich hier besser verstanden als in Ihrer kanadischen Heimat?
Chilly Gonzales Zu Beginn meiner Karriere in den 1990er Jahren auf jeden Fall. Da herrschte in Kanada noch eine sehr konservative Singer-Songwriter-Kultur. Meine Kollegin Peaches und ich hatten uns da bereits zusammengetan und kamen bei Konzerten mit anderen Acts immer erst ganz am Schluss dran. Weil die Organisatoren Angst hatten, wir würden das Publikum verscheuchen – wir waren laut, verkleidet, aggressiv, lustig und auch noch electro. Sie fanden uns zwar talentiert, aber dennoch seltsam. Als wir dann nach Berlin gingen, sah das Ganze anders aus. Dort konnten wir uns richtig ausleben.
ARTE MAGAZIN Im Film „Shut Up and Play the Piano“ sind Sie froh, dass diese Phase in Berlin nicht allzu lange andauerte. Warum?
Chilly Gonzales Es war eine Zeit des Ausprobierens und Grenzen-Austestens. Und irgendwann muss man zu sich zurückfinden und diese Dinge anwenden. Ich war sehr von Peaches beeinflusst, ihre Welt war unglaublich befreiend für mich. Aber irgendwann fühlte sich der Musikstudent in mir in dieser Punkrock-Performance-Welt etwas verloren. Laut sein und schreien bringt Aufmerksamkeit. Aber langfristig kannst du das nicht machen. Also überraschte ich die Leute, indem ich ganz leise wurde. Ich ging ans Klavier zurück.
ARTE MAGAZIN Ganz leise sind Sie aber nicht gerade.
Chilly Gonzales Damals schon. Heute habe ich eine gute Mitte für mich gefunden. Im Vordergrund steht meine Musik – gepaart mit einer gewissen Respektlosigkeit.
ARTE MAGAZIN Gegenüber wem oder was?
Chilly Gonzales Ich mag Autorität nicht. Sobald ich Menschen treffe, die nie von ihrem Standpunkt abweichen würden, werde ich instinktiv respektlos. Natürlich zeige ich auch Respekt. Ich signalisiere nur, dass es auch anders geht.
ARTE MAGAZIN Und das verwirrt Ihr Publikum nicht?
Chilly Gonzales Das hat wieder mit dem kulturellen Verständnis zu tun. In Frankreich,Deutschland und Italien – dem Zentrum der europäischen Hochkultur – kann ich Beethoven und Goethe auf die Schippe nehmen und die Leute nehmen meine Musik trotzdem ernst. In den USA oder auch in Großbritannien haben die Menschen zu großen Respekt vor der europäischen Kultur, weil sie sie nicht selbst kreiert haben. Wenn dann einer kommt und sich darüber lustig macht, kann er ja nicht gut sein am Klavier.
ARTE MAGAZINWarum war es Ihnen immer wichtig, unter einem Künstlernamen aufzutreten?
Chilly Gonzales Zum einen traten die meisten meiner Lieblingsmusiker unter einem Pseudonym auf. Das hat mich sicherlich beeinflusst. Und spätestens als ich meine Liebe zum Rap entdeckte, wollte ich auch einen Namen wie Busta Rhymes oder Biggie Smalls haben. Er sollte mich davon befreien, zu vorsichtig zu sein. Als Jason Beck bin ich nicht so mutig; als Chilly Gonzales kann ich alles ausprobieren, was ich will.
ARTE MAGAZIN Sie beschreiben Chilly Gonzales immer als musikalisches Genie. Gibt es etwas, das er nicht kann?
Chilly Gonzales Ich kann nicht gut Noten lesen. Im Film sieht man, wie ich zu Hause am Klavier sitze und übe – und mich fühle wie ein Kind, das gerade erst mit dem Unterricht begonnen hat.
ARTE MAGAZIN Die intimste Szene im Film.
Chilly Gonzales Ja, intim und überraschend für Menschen, die mich als größenwahnsinnigen Maestro auf der Bühne kennen. Und ich muss sagen: Es ist mir nicht leichtgefallen, diese Schwäche zuzugeben. Gleichzeitig zeigt es aber auch: Wer bescheiden bleibt und viel übt, kann ein musikalisches Genie werden!
ARTE MAGAZIN Ist das auch das Motto Ihres Gonzervatorys, das Sie 2018 gegründet haben?
Chilly Gonzales Zunächst einmal ist es eine tolle Erfahrung, über die Workshops wieder mehr mit jungen Musikern in Kontakt zu kommen. Musik hat sich sehr verändert. Nicht nur der Klang, auch die Technik dahinter. Meine Karriere ging mit dem Start des Internets los. Vor Twitter, vor Facebook. Heute läuft das alles anders, und es ist spannend, sich darüber auszutauschen.
ARTE MAGAZIN Was bringen Sie Ihren Schülern bei?
Chilly Gonzales Mein großes Ziel ist es, eine Art Pilates für junge Musiker zu entwickeln. Eine Reihe von Übungen, mit denen sie Dinge lernen, für die ich Jahre gebraucht habe: Dass man besser wird, wenn man aus seiner Komfortzone heraustritt. Oder dass Scheitern der beste Lehrer ist. Daran glaube ich wirklich. Aber das sind erst einmal nur Klischees, die es zu beweisen gilt. Und eben diesen Beweisen bin ich mit den Gonzervatory-Teilnehmern auf der Spur.
ARTE MAGAZIN Viele prominente Musiker fangen irgendwann an, zu unterrichten. Warum hatten Sie auf einmal das Bedürfnis, Ihr Können und Wissen weiterzugeben?
Chilly Gonzales Die Klassik- und Jazz-Welt ist sehr institutionalisiert. Es gibt nur einen richtigen Weg. Und wenn du mit dem nicht einverstanden bist, bleibst du außen vor. Ich wurde selbst klassisch ausgebildet und weiß, an welchen Stellen ich nicht hineingepasst habe. In gewisser Weise habe ich jetzt eine Musikschule ins Leben gerufen, wie ich sie mir damals gewünscht hätte.
ARTE MAGAZIN Gerade haben Sie ein Buch über die irische Musikerin Enya geschrieben. Wieder eine Überraschung für Ihre Fans?
Chilly Gonzales In gewisser Weise schon. Man wird doch erst einmal komisch beäugt, wenn man zugibt, dass man gerne Enya hört. Und genau darum geht es in dem Buch: um sogenannte Guilty Pleasures, heimliche Vergnügen. Als Kind hat man keine Hemmungen zu zeigen, was einem gefällt. Später definiert man sich über seinen Geschmack – gewisse Dinge dürfen einem dann nicht mehr gefallen, will man zu einem bestimmten gesellschaftlichen Kreis gehören. Das finde ich traurig. Es sollte nicht peinlich sein müssen, wenn man gerne Enya hört – daher auch der englische Titel „Enya: A Treatise on Unguilty Pleasures“.
ARTE MAGAZIN Was gefällt Ihnen an Enyas Musik?
Chilly Gonzales Mir gefallen sanfte Frauenstimmen, wie die von Enya, Beach House oder Lana Del Rey. Was daran liegt, dass meine Mutter mir nie Schlaflieder vorgesungen hat. Eine sehr persönliche Angelegenheit.
ARTE MAGAZIN Sie geben sonst nur sehr wenig von Ihrem Privatleben preis.
Chilly Gonzales Ich glaube, wenn man zu viel preisgibt, leidet das Privatleben darunter. Gibt man gar nichts preis, leidet das Berufsleben. Weil sich Menschen dann nicht mit dem Künstler und seiner Kunst identifizieren können. Meine Songtexte sind beispielsweise sehr persönlich, wie ich meinen Kaffee mag, geht niemanden etwas an.
ARTE MAGAZIN Über Enya weiß man auch kaum etwas.
Chilly Gonzales Sie ist ein riesengroßes Mysterium. Ich liebe das an ihr. Und ich glaube, das hat mich auch in gewisser Weise beeinflusst. Würde sie morgen in einem Podcast alles aus ihrem Leben er-zählen – den würde ich mir nicht anhören.