»Ich hätte gerne Flügel«

Armin Mueller-Stahl ist der lebende Beweis dafür, dass sich hohes Alter und Kreativität nicht ausschließen. Im Interview spricht der 90-Jährige über seine beiden größten Leidenschaften nebst der Schauspielerei: die Musik und die Malerei.

Porträt_Armin Mueller-Stahl_Gene Glover
Der heute 90-Jährige wurde 1930 im ostpreußischen Tilsit geboren, studierte Violine und wechselte später zur Schauspielerei. Auch widmete er sich sein Leben lang der Malerei, wie eine Ausstellung in Lübeck bis Anfang Oktober zeigt. Foto: Gene Glover

Die Bezeichnung „Multitalent“ kann Armin Mueller-­Stahl nicht leiden. Schon gar nicht, wenn er selbst so genannt wird. „Es gibt wenige echte Multitalente“, sagt der 90-Jährige. „­Victor ­Hugo, ­Goethe und vielleicht ­Mendelssohn zählen dazu.“ Im Kontext dieser Namen nimmt man ihm seine Bescheidenheit zwar ab, nötig hätte er sie aber nicht. Zu vielseitig talentiert ist der Schauspieler, Autor und Musiker, der seine Zeit heute hauptsächlich der Malerei widmet. Ein Gespräch über die Tragikomik des Lebens, den Jazz und das Fliegen.

arte magazin Herr Mueller-Stahl, Sie haben in Ihrer Schauspielkarriere knapp 140 Filme gedreht. Erinnern Sie sich an alle Rollen gleichermaßen?
Armin Mueller-Stahl Wenn ich alle Rollen, die ich gespielt habe – im Film und im Theater –, im Kopf hätte und sie hintereinander aufsagen müsste, dann wäre ich wahrscheinlich ein halbes Jahr mit Sprechen beschäftigt. Zum Glück habe ich also nicht alle im Kopf!

arte magazin Welche Rollen sind noch präsent?
Armin Mueller-Stahl Die in „Bittere Ernte“ zum Beispiel. Den Film haben wir 1985 in 15 Tagen gedreht. Die Rolle war sehr schwierig, deshalb ist sie mir im Kopf geblieben. „Utz“ von Bruce Chatwin ist da noch, „Avalon“, ein Film, den ich in Amerika gedreht habe, und „Shine“, in dem ich den strengen Vater des Pianisten David Helfgott spiele.

arte magazin Sie sagen, Sie hätten sich immer tragi­komische Figuren ausgesucht. Warum?
Armin Mueller-Stahl Das Leben ist tragikomisch für mich. Und ich glaube, dass ich ein guter Tragikomiker bin. Als Schauspieler und auch innerlich, als Mensch. In der Musik habe ich die tragikomischen Elemente am liebsten, zum Beispiel in der jüdischen Musik oder wie die Klaviermusik von Rachmaninow im Film „Shine“. Diese Musik ist immer auch traurig. Und sie ist immer auch lustig und humorvoll. Beides gehört im Leben zusammen. Und so sind auch die Figuren, die mich am meisten interessiert haben.

arte magazin Sie bezeichnen sich selbst als Gaukler.
Armin Mueller-Stahl „Ich bin schon Gaukler über siebzig Jahr, bin Tragödie, bin der Narr, bin der Bettler, bin der König und ich weine mal ein wenig. Doch ich lache wie ein Kind, wenn die Leute glücklich sind.“ Das ist der Refrain eines Gedichts, das ich mal geschrieben habe. Es beschreibt mich sehr gut. Nur die Stelle „über siebzig Jahr“ habe ich gerade angepasst – ursprünglich war mal von 50 Jahren die Rede. Mittlerweile bin ich ja aber schon ein 90-jähriger Kerl.

Armin Mueller-Stahl – Ein Gaukler in Hollywood

Porträt

Montag, 2.8. — 22.05 Uhr
bis 31.8. in der Mediathek

Armin Mueller-Stahl_Heike Sittner/MDR
Mehrmals musste ­Armin Mueller-­Stahl in seinem Leben wieder von vorne anfangen: nach dem Zweiten Weltkrieg, nach seinem Bruch mit der DDR und später in Hollywood. Foto: Heike Sittner/MDR

arte magazin Stimmt es, dass Sie noch jeden Tag malen?
Armin Mueller-Stahl Jeden Tag. Ich gehe um neun Uhr morgens runter in mein Atelier. Und dann bin ich drei, vier Stunden malerisch beschäftigt. Im Moment interessiert mich das Thema Jazz, also höre ich dazu Jazz-Platten. Es sind schon etwa fünfzig Bilder entstanden. Meine Finger wollen beschäftigt werden. Das gelingt mir mit dem Malen am besten.

arte magazin Was interessiert Sie an der Jazzmusik?
Armin Mueller-Stahl Die Improvisation, die Kraft des Zufalls, die unser Leben begleitet. Gehen Sie rechts um die Ecke, verläuft Ihr Leben so. Gehen Sie links um die Ecke, verläuft es anders. Schon dass Sie geboren werden, ist ein Zufall. Durch die Kraft des Improvisierens in der Musik schaffe ich es, malerisch Zufälle zu gestalten. Die Malerei kommt der Musik sehr nahe. Ich denke sowieso, alle Kunst will Musik werden.

arte magazin Inwiefern?
Armin Mueller-Stahl Das Wort hat es schwerer, Musik zu werden. Die Lyrik kommt vielleicht in die Nähe. Oder ein Roman, eine ganze Geschichte kann musikalische Momente haben. Das Wort allein aber nicht. Da ist die Malerei der Musik näher als das Wort, wie ich finde.

arte magazin Die Musik scheint Ihnen von allen Künsten am nächsten zu sein.
Armin Mueller-Stahl Das ist sie. Aber die Malerei kommt kurz danach. Sie kann mich auch berühren. Wenn ich jetzt zum Beispiel entscheiden sollte, wer für mich größer ist, Rembrandt oder Beethoven, entscheide ich mich für Rembrandt. Beide haben schwarze Farben. Aber die Skizzen von Rembrandt sind unserer Zeit näher, er war ein unglaublicher Könner seines Fachs. Beethoven ist mir oft sehr anstrengend. Wenn ich male, stört er mich.

arte magazin Vermissen Sie das Schauspielen?
Armin Mueller-Stahl Die Schauspielerei war mein Handwerk, darauf habe ich mich verlassen. Mein Leben lang habe ich dabei Teamarbeit geleistet. Und das habe ich auch gerne gemacht. Aber im Moment genieße ich es, nur für mich selbst zuständig zu sein und nicht mehr irgendwelchen anderen Einflüsterungen lauschen zu müssen. Das Malen und Zeichnen macht jetzt mein Leben aus.

arte magazin Sie sagen, das Malen sei wie Fliegen.
Armin Mueller-Stahl Ja, in gewisser Weise kommen Sie in andere Sphären. Und Sie bewegen sich. In meiner Vorstellung sind dem lieben Gott Fehler bei der Erschaffung des Menschen unterlaufen. Ich hätte gerne ein paar Flügel und würde gerne fliegen können. Und ich gucke manchmal auf die Möwen und denke: „Schade! Was die können, möchte ich auch können, wenigstens für eine halbe Stunde.“