Wie in jedem Jahr wird auch am 5. Mai 2021 ein französischer Militärbischof in der Pariser Kathedrale Saint-Louis-des-Invalides ein Seelenamt für Napoleon lesen. Wahrscheinlich wird die Messe dieses Mal besondere Beachtung finden, denn es ist sein 200. Todestag. Noch heute erinnern sich viele Menschen, nicht nur in Frankreich, an ihn oder bewundern ihn gar. Das kann überraschen, denn im Unterschied zum Zeitgenossen Ludwig van Beethoven hat Napoleon außer der Stiftung des Ordens der Ehrenlegion nicht sehr viel hinterlassen, das noch heute Wirkung entfaltet.
François-René de Chateaubriand, ein anderer Zeitgenosse Napoleons, vermutete in seinen 1849 erschienenen Memoiren jedoch: „Nach dem Despotismus seiner Person werden wir noch den Despotismus seiner Erinnerung erleiden müssen. Dieser Despotismus ist noch viel dominierender. Auch wenn wir gegen Napoleon kämpften, solange er auf dem Thron saß, gibt es eine universelle Zustimmung zu den Fesseln, in die er uns als Toter geschlagen hat.“ Chateaubriand konnte bei seiner Prognose darauf verweisen, dass Napoleon schon zu Lebzeiten zwei Bewunderer hatte, die ihm nacheiferten: Toussaint Louverture, der Führer der Haitianischen Revolution, und Freiheitskämpfer Simón Bolívar, der bis in die Gegenwart als Idol in Südamerika verehrt wird. Wie ihr Vorbild scheiterten sie zwar, aber dieser Umstand war weder ihnen noch Napoleon abträglich, weshalb auch andere sich als Nachahmer versuchten. Einer der letzten war Jean-Bédel Bokassa, der sich im Dezember 1976 zum Kaiser der Zentralafrikanischen Republik ausrief.
Fast jede Nation hatte ein positives Bild von Napoleon. Mit Ausnahme der Spanier galt das auch und gerade für die Völker, die mit seiner Herrschaft eher gemischte Erfahrungen machten. Die Deutschen beispielsweise, die je nach politischer Einstellung mit ihm zwar unterschiedlich akzentuierten, zumeist aber vorteilhafte Erinnerungen verbanden. Die posthume Karriere Napoleons in Deutschland endete erst, als die Nazis glaubten, eine „Wesensgleiche“ zwischen ihm und Adolf Hitler feststellen zu können. Ein Exempel dafür liefert die 1941 erschienene Biografie „Napoleon. Kometenbahn eines Genies“. Deren Verfasser: Philipp Bouhler, Leiter der „Kanzlei des Führers der NSDAP“.
Bonaparte erfand Napoleon
Napoleon, so argumentieren seine heutigen Apologeten und Bewunderer etwa, habe der Moderne zum Durchbruch verholfen. Dafür wird auf sein Gesetzbuch, den Code Civil, verwiesen oder auch auf die von ihm ins Werk gesetzte umfassende „Flurbereinigung“ der buntscheckigen deutschen Staatenwelt des Alten Reichs. Dagegen lässt sich einwenden, dass Napoleon unfähig war, stabile und legitime politische Verhältnisse zu schaffen.
Noch immer übt der „Despotismus seiner Erinnerung“ eine lähmende Wirkung aus. Die entscheidenden Voraussetzungen dafür schuf der Mann, der am Beginn seiner atemberaubenden Karriere seinen korsischen Familiennamen Buonaparte in Bonaparte änderte und der sich als jener Napoleon I. selbst erfand, dessen heute noch viele gedenken. Als Geschöpf der Revolution machte Bonaparte Norditalien zum Hauptschauplatz in dem Krieg, den das revolutionäre Frankreich gegen Österreich führte: Als blutjunger General besiegte er gegnerische Streitkräfte, die ihm zwar überlegen waren, die jedoch von verknöcherten Feldmarschällen angeführt wurden. Allein schon diese Konstellation sicherte ihm Sympathien, die er durch revolutionären Elan und gewitzte Taktik zu vermehren verstand. Das verschaffte ihm schnell nicht nur in Frankreich, sondern in Europa den Ruf der Überlegenheit, den er mit propagandistischem Geschick zu festigen wusste, indem es ihm gelang, auch gelegentliche Rückschläge zu überspielen und als bravouröse Taten darzustellen. Davon ließ sich selbst ein so kühler Kopf wie der preußische Strategietheoretiker Carl von Clausewitz betören. Dank dieser geschickten Selbstdarstellung vermochte Bonaparte, sich als Lichtgestalt zu entwerfen, den die Franzosen als Retter akklamierten, als er das in Korruption versumpfte Revolutionsregime mit einem Putsch im November 1799 hinwegfegte und die Macht in Frankreich übernahm.
Das war der erste Akt, dem als zweiter folgte, dass er sich gleichsam auf offener Bühne von einem General der Revolution in Napoleon, den Kaiser von Frankreich, verwandelte. Aus der Konkursmasse der Revolution, als deren Repräsentant er sich noch als Kaiser verstand, barg er die Elemente, die er zur Grundlage der eigenen Macht benötigte. Das Wichtigste davon war ihm die Égalité, die er im Sinne der rechtlichen und staatsbürgerlichen Gleichheit vor dem Gesetz verstand, die jedoch nur für das sogenannte starke Geschlecht galt. Folglich war allein der Mann das Subjekt des Code Civil. Selbst das erwies sich damals noch als revolutionär genug, um in den von Napoleon eroberten Ländern, in denen noch postfeudale Verkrustungen herrschten, verführerischen, weil Befreiung verheißenden Charme zu entfalten. Im Übrigen war Napoleon stets umsichtig darauf bedacht, an Veränderungen in den von ihm unterjochten Ländern nur das zuzulassen, was seiner eigenen Macht von Nutzen war, aber nichts, was diesen zum künftigen Vorteil hätte gereichen können. In dieser Differenz verbirgt sich ein Missverständnis, das der Historiker Thomas Nipperdey zu Beginn seiner „Deutschen Geschichte“ mit dem seither häufig zitierten Satz formulierte: „Am Anfang war Napoleon.“
Napoleon war unfähig, stabile und legitime politische Verhältnisse zu schaffen
Jünger prägen das Geschichtsbild
Der dritte und für den posthumen Despotismus Napoleons entscheidende Akt war die von den Siegern über ihn verhängte Verbannung nach St. Helena. Dieses Schicksal wurde von ihm virtuos zum Martyrium stilisiert, indem er für sich eine Leidensgeschichte erfand, die seine Begleiter – die „Evangelisten“, wie sie Heinrich Heine treffend nannte – überlieferten. Auf diesen genialen Einfall kam Napoleon am 12. Juni 1816 im Gespräch mit dem Grafen Bertrand, als er, die Bibelkritik des späteren 19. Jahrhunderts vorwegnehmend, sagte: „Der Glaube garantiert uns die Existenz Jesu, für die uns die historischen Beweise aber fehlen. Der jüdische Geschichtsschreiber Josephus ist der Einzige, der ihn überhaupt erwähnt. (…) Er sagt nur: Jesus Christus trat in Erscheinung und wurde gekreuzigt. (…) Die Evangelisten berichten von keinem Geschehen, für das sich ein Nachweis beibringen lässt. (…) Die Evangelien enthalten nichts anderes als eine schöne Moral und wenig Fakten.“
Vor allem das „Evangelium“ nach Napoleons Lieblingsjünger Emmanuel de Las Cases be-richtet vom Leiden und Sterben Napoleons in der Unwirtlichkeit St. Helenas unter dem englischen Kerkermeister Sir Hudson Lowe. Der „Mémorial de Sainte-Hélène“ bediente sich der Lebensgeschichte Napoleons als Stoff, den Las Cases nicht nur neu zuschnitt, sondern ihn auch durch spätere Erfahrungen und gewandelte Erwartungen anreicherte. Damit gelang es ihm, das vermeintliche Protokoll von Gesprächen mit dem Verbannten, also dessen Vermächtnis, so zu stilisieren und redaktionell zu bearbeiten, dass es sich den bei Erscheinen des Werks 1823 in Frankreich und Europa gängigen Ansichten der öffentlichen Meinung einspiegeln ließ. Mit anderen Worten: Der „Mémorial“ ist keineswegs, wie gern geglaubt, eine Kompilation authentischer Äußerungen Napoleons, sondern das Buch dokumentiert sogar von ihm angeblich verlautbarte Anschauungen, die seinem Handeln oft völlig widersprechen. Dafür jedoch stehen diese vermeintlichen Aussagen Napoleons im Einklang mit dem im nachnapoleonischen Europa vorherrschenden liberalen Zeitgeist. Das machte sie in der Zeit, als der „Mémorial“ erschien, zur Sensation und das Buch, das in die wichtigsten Sprachen übersetzt wurde, zu einem internationalen Bestseller.
Das Handeln Napoleons während seiner uneingeschränkten Beherrschung Kontinentaleuropas erhielt auf diese Weise nachträglich einen zukunftsfähigen Sinn, den es nie hatte. Damit erfüllte sich eine weitere Prognose Chateaubriands: „Die Welt gehört Bonaparte; das, was dem Verheerer nicht gelang zu erobern, nimmt sein Renommee in Beschlag. Zu Lebzeiten hat er die Welt verfehlt, als Toter besitzt er sie.“
Das Erbe des Korsen
Was bleibt: Baumgesäumte Straßen und Sprachbilder erinnern an Napoleon. Inseln halten ihn in Ehren. Beständig ist auch das Klischee vom kleinen Mann.
1. Alleen
Die „allée“ nach dem französischen „aller“ für „gehen“ war als schattiger Gartenweg schon im 17. Jahrhundert hierzulande bekannt. Napoleon aber ließ Alleen überall in Europa als beschattete Marschrouten für seine Truppen anlegen.
2. Inseln
Er ist Korsikas berühmtester Sohn, in seiner Heimatstadt Ajaccio trägt sogar der Flughafen seinen Namen. Napoleons Kurzzeit-Exil Elba hisst bis heute die von ihm eingeführte Fahne. Und sein Verbannungsort St. Helena wäre ohne ihn ein vollständig unbekanntes Eiland im Südatlantik.
3. Waterloo
Der Name des Dorfes bei Brüssel ist zum Ausdruck für die vernichtende Niederlage schlechthin geworden – „sein Waterloo erleben“ eben. Die verlorene Schlacht gegen alliierte Truppen unter englisch-preußischer Führung 1815 markierte das endgültige Aus für den Kaiser Napoleon.
4. Fisimatenten
„Visitez ma tente“, lockten französische Soldaten junge Damen ins Zelt. Die elterliche Warnung „Mach keine Fisimatenten“ soll so entstanden sein. Ein Spracherbe jener Jahre ist das klappbare Ober- oder Kämpferfenster, französisch „Vasistas“ – abgeleitet von der auf Deutsch gestellten Frage: Was ist das?
5. Kleine Männer
Über den „Napoleon-Komplex“ schrieb Psychologe Alfred Adler Anfang des 20. Jahrhunderts. Dabei war der Kaiser mit 1,68 Metern zeitgemäßer Durchschnitt. Das Attribut „klein“ verdankt er wohl falsch übertragenen Längenmaßen. Sein Name aber steht hartnäckig für geringen Wuchs und Geltungssucht.