Stolz und mysteriös steht Melody Gardot beim Konzert im Pariser Olympia 2015 auf der Bühne. Schwarzes Outfit, High Heels, Hut, Sonnenbrille: Wie eine Frau aus einem Film noir wirkt sie, wie eine Femme fatale. Sie singt, spielt Gitarre und Klavier, spricht mit dem Publikum, zuerst lockend auf Englisch, dann leise auf Französisch; keine Ansagen, sondern eine Verständigung über ihre Kunst. Plötzlich haut sie temperamentvoll in die Tasten, als wäre sie bei den Proben. Die Band spielt in ihrem Rücken, dazu drei Bläser. Sie hat alles unter Kontrolle.
Auf dem Cover des Albums „Live in Europe“ steht sie nackt auf der Bühne vor dem Auditorium, nur eine Gitarre vor dem Körper, von hinten fotografiert. Ein Zitat aus dem Jazz, eine Anspielung auf die emotionale Nacktheit (und ein Aktfoto) von Nina Simone. „Wie eine afrikanische Königin“, sagt Gardot. Das Bild, nackte Frau mit Gitarre, ließ sie nachzeichnen. So wird das Spekulative zum Metaphorischen.
Als sie 19 war, wurde die Sängerin aus New Jersey auf dem Fahrrad von einem Geländewagen touchiert. Gardot erlitt einen Beckenbruch, Wirbel- und Kopfverletzungen. Sie studierte damals Modedesign, spielte Klavier in kleinen Clubs in Philadelphia. Nun musste sie ihr Leben zurückgewinnen. Ein halbes Jahr verbrachte sie im Krankenhaus, machte eine Musiktherapie, lernte Gitarre, befasste sich mit Jazz und schrieb Lieder. Zwei Jahre später stand sie wieder auf der Bühne, unterstützt von einem Gehstock; 2008 erschien ihre erste Platte bei dem für seine Jazz-Produktionen berühmten Label Verve. Von den Verletzungen blieb eine Lichtempfindlichkeit, weshalb Gardot stets eine getönte Brille trägt. Mit dem Album „My One and Only Thrill“ kam 2009 der Durchbruch als Sängerin, die das Arsenal der Jazz-Historie neu deutet, die Torch Song, Chanson, Cool Jazz, Rhythm ’n’ Blues, Klassiker und afrikanische Rhythmik verbindet, die das Intime und das Grelle beherrscht, die Verführung und den Rausch. Die Musiker Vince Mendoza, Heitor Pereira und Larry Klein, einst Ehemann und Produzent von Joni Mitchell, arrangierten ihre Platten. Zu hören war sie zudem mit Till Brönner, gewann in Deutschland einen „Echo“, als sie 26 war. Sie begann ganz oben. „Der Weg“, sagt sie, „wurde immer schöner.“
„Am liebsten schlafe ich den ganzen Tag“
„The Absence“ (2012) ist ein flirrendes, schwebendes, komplexes Album mit Bossa Nova, Samba und Fado, eine Hommage an die bezaubernde Musik von Antonio Carlos Jobim und Caetano Veloso. Während die Pianistin Diana Krall die wohltemperierte Klassizistin des Jazz ist, gilt Melody Gardot eher als Unberechenbare – und als Erotikerin. Auf dem Cover von „The Absence“ räkelt sich die heute 34-Jährige wie eine gestrandete Meerjungfrau auf einem Felsen. „Als junge Frau, deren Körper zerstört wurde, fand ich mich nie richtig sexy. Erst auf den Fotos habe ich meine Schönheit erkannt.“ Ihre Sinnlichkeit braucht die Inszenierung. Sie arbeitet unentwegt an den Songs, am Atmen, an Geräuschen, sozusagen an der Haptik, der Maserung der Lieder.
Sparsam und ohne Eile nimmt Gardot ihre Platten auf, lässt dabei mitunter Jahre vergehen. Sie sei gern allein, sagt sie: „Am liebsten schlafe ich den ganzen Tag.“ Dabei müsse sie eigentlich kreativ sein. Das ist natürlich Koketterie, denn selten interpretiert sie Klassiker, plündert auch nicht das „Great American Songbook“– sie schreibt ihre Songs selbst und wählt gezielt jene Musiker, Arrangeure und Produzenten aus, die sie herausfordern. Widerstände vermeidet sie dabei nicht.
In der Dokumentation „Melody Gardot im Château d’Hérouville“, die ARTE im Mai ausstrahlt, spielt sie zusammen mit einem Kammerensemble. Das Schloss bei Paris, im 18. Jahrhundert vom französischen Architekten Pierre François Godot neu gestaltet, gemalt von Vincent van Gogh und seit 1969 ein gefragtes Tonstudio, in dem unter anderem Grateful Dead, David Bowie, Iggy Pop, Jethro Tull und Fleetwood Mac aufnahmen, ist sowohl Kulisse für den facettenreichen Werkstatt-, Interview- und Konzertfilm als auch Vignette des Genius loci: Sessions im schummerigen Salon, Musizieren im Garten, Lümmeln auf dem Ledersofa. Ein Land-Idyll, dem auch Elton John 1972 auf seinem Album „Honky Chateau“ huldigte. Für Gardot war das Schloss nur eine Zwischenstation: Inzwischen hat sie eine Wohnung in Paris. Und seit vier Jahren braucht sie den Stock bei Konzerten nicht mehr. Sie sei einen schmerzlichen Weg gegangen. Jetzt aber erlebe sie jeden Morgen wie das Öffnen der Blüten im Frühling.
Als junge Frau, deren Körper zerstört wurde, fand ich mich nie sexy.