Judenhass – ein Thema, das die Menschen seit mehr als 2.000 Jahren beschäftigt. Die ARTE-Dokureihe „Eine Geschichte des Antisemitismus“ offenbart, wie judenfeindliche Denkweisen über Jahrhunderte hinweg kolportiert wurden – bis sie in Deutschland schließlich zum größten Verbrechen der Geschichte führten: zur industriell organisierten Vernichtung von sechs Millionen Menschen. 77 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz müssen wir heute feststellen: Der Antisemitismus ist auch im 21. Jahrhundert nicht überwunden – trotz Erinnerungskultur, trotz Aufklärung über die Gräuel der Nazis. Felix Klein, Regierungsbeauftragter für jüdisches Leben in Deutschland, spricht vor diesem Hintergrund mit dem ARTE Magazin über den Anstieg antisemitischer Straftaten während der Pandemie, blinde Flecken in der linksliberalen Protestkultur und die Frage, ab wann Kritik an Israel antisemitisch ist.
arte Magazin Herr Klein, die Zahl antisemitischer Straftaten hat in Deutschland in den Jahren 2020 und 2021 einen Höchststand erreicht. Welche Ursachen sind dafür verantwortlich?
Felix Klein Zum einen, und das ist eine positive Entwicklung, werden antisemitische Straftaten heute häufiger zur Anzeige gebracht als früher. Zum anderen, das ist besorgniserregend, beobachten wir seit einigen Jahren einen starken Anstieg von Straftaten, besonders im Internet. Seit Beginn der Pandemie ist die Zahl der Social-Media-Posts mit antisemitischen Inhalten um das Dreizehnfache gestiegen. Das ist nicht verwunderlich: Menschen sind in Krisenzeiten leider empfänglicher für irrationale Denkmuster und Verschwörungsmythen – und Antisemitismus ist eine sehr geübte und übliche Technik. Auch der Einfluss des Nahostkonflikts lässt sich anhand von Zahlen nachweisen: Im Mai 2021, als es besondere Spannungen zwischen Israel und dem Gazastreifen gab, kam es zu einem starken Anstieg antisemitischer Kriminaldelikte.
arte Magazin Laut Bundeskriminalamt (BKA) wird der Großteil antisemitischer Straftaten von Rechtsradikalen verübt. Wie kommt es, dass der Zentralrat der Juden die Bedrohung durch islamistischen Antisemitismus weit höher schätzt?
Felix Klein Die Einordnung der Straftaten wird vom BKA und von der Polizei in einem doppelten Verfahren geprüft und gilt somit als bestätigt. Dennoch spiegeln die Aussagen der jüdischen Community eine Empfindung, deren Ursache aufgeklärt werden muss. Ich habe deshalb den „Runden Tisch Sicherheit“ angeregt, an dem Innenministerium, BKA, Verfassungsschutz und der Zentralrat der Juden diese Wahrnehmungsdiskrepanz erörtern. Eine Erkenntnis ist, dass Delikte, die unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegen, etwa Pöbeleien oder Gesten, häufiger von jungen Menschen aus muslimisch geprägten Milieus verübt werden.
arte Magazin Was wird konkret getan, damit jüdische Menschen ihre Identität angstfrei zum Ausdruck bringen können?
Felix Klein Nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle im Jahr 2019 hat die Bundesregierung die gesetzlichen Grundlagen für den Kampf gegen Hasskriminalität erweitert. Bund und Länder investieren außerdem in die Sicherheit jüdischer Einrichtungen: in bauliche Maßnahmen und Fortbildungen für das Sicherheitspersonal. Zudem werden zivilgesellschaftliche Organisationen gefördert, die über Antisemitismus aufklären.
arte Magazin Der Schriftsteller David Baddiel kritisiert in seinem Buch „Und die Juden?“, dass Antisemitismus im britischen Diskurs um die Diskriminierung von Minderheiten ein blinder Fleck sei. Gilt das auch für Deutschland?
Felix Klein Ich stimme Baddiel insofern zu, als dass ich mir wünschen würde, antisemitische Übergriffe würden ähnlich starke Protestaktionen hervorrufen, wie es in anderen Bereichen der Fall ist. So kam es im Mai 2021 zu Beleidigungsdelikten, Fahnenverbrennungen und Volksverhetzungen vor jüdischen Einrichtungen, doch es gab wenig Solidarität und Gegenkundgebungen vonseiten der Bevölkerung. Es muss aber festgehalten werden, dass der Diskurs in Deutschland – dem Land des Holocaust – ein anderer ist. Unsere Erinnerungskultur sowie die staatlichen und gesellschaftlichen Maßnahmen bewirken hoffentlich, dass sich die hier lebenden Juden nicht diskriminiert fühlen.
arte Magazin 2021 verlor die WDR-Redakteurin Nemi El-Hassan ihren Job, weil sie als Jugendliche an einem Anti-Israel-Protest teilgenommen hatte. Anfang 2022 wurden Journalisten der arabischen DW-Redaktion entlassen, die privat Kritik an Israel geäußert hatten. Spielt der Fakt, dass sie alle Muslime sind, eine Rolle in der Beurteilung ihrer Fälle?
Felix Klein Nein. Als Regierungsbeauftragter gegen Antisemitismus betone ich immer wieder, dass jegliche Form von Judenhass gleichermaßen zu verurteilen ist – egal, woher er kommt.
arte Magazin Ab wann ist Kritik an Israel antisemitisch?
Felix Klein Nach meinem Dafürhalten wird die Grenze überschritten, wenn die israelische Regierungspolitik mit der des Dritten Reichs verglichen wird, wenn das Existenzrecht Israels infrage gestellt wird oder wenn der Staat Israel anders behandelt wird als andere westliche Demokratien.
arte Magazin Die israelische Besatzungspolitik darf also kritisiert werden?
Felix Klein Natürlich – und das geschieht auch tagtäglich in den Medien. Die harten Maßnahmen der israelischen Regierung gegen die palästinensische Zivilbevölkerung, auch der Grenzverlauf der Mauer um Israel, können selbstverständlich diskutiert und kritisiert werden. Wenn aber der Gazastreifen als Konzentrationslager bezeichnet wird oder in Deutschland lebende Juden für das verantwortlich gemacht werden, was in Israel geschieht, dann ist das ganz klar antisemitisch.
Zur Person
Felix Klein, Jurist und Diplomat:
Seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus.