Stille Rebellion

Die italienische ­Autorin Elsa Morante richtete sich an ein Publikum außerhalb der literarischen Elite. Sie fokussierte sich auf die einfachen Menschen – mit Authentizität und Empathie.

Elsa Morante mit Zeitung in der Hand auf einer Straße.
Elsa Morantes Roman "La Storia" gilt als eines der wichtigsten literarischen Werke des 20. Jahrhunderts. Foto: Federico Garolla/Bridgeman Images

Molotowcocktails und Steine fliegen durch die Luft, vermummte Gestalten rennen durch die mit Menschen überfüllten Straßen, Polizisten setzen Tränengas und Rauchbomben ein. Massive Demonstrationen, Arbeiterstreiks und gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Gruppierungen prägen die 1970er Jahre in Italien. Es sind Jahre großer gesellschaftlicher Umbrüche in Europa. Auf Italiens Straßen herrscht der Ausnahmezustand: Die „bleiernen Jahre“ (anni di piombo), wie die Zeit zwischen Ende der 1960er und Ende der 1980er in Italien genannt wird, ist geprägt von sozialen, politischen und wirtschaftlichen Krisen. Auch Entführungen, Terror und Attentate zählen zu den Folgen.

Ausgerechnet in dieser Zeit erscheint ­Elsa ­Morantes Roman „La Storia“, der eines der wichtigsten literarischen Werke des 20. Jahrhunderts werden sollte. ­Morante, die zuvor Sammlungen von Kurzgeschichten und zwei Romane veröffentlicht hatte, vor allem aber als Ehefrau des bedeutenden italienischen Schriftstellers Alberto ­Moravia bekannt war, gelang damit der internationale Durchbruch. Auf 661 Seiten beschrieb die Autorin 1974 das einfache Leben im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit, ein Thema, das nicht dem Zeitgeist entsprach. „Der Roman ist sehr untypisch für damals“, sagt die Literaturwissenschaftlerin ­Elisiana Fratocchi im Gespräch mit dem ­ARTE ­Magazin. Anders als viele andere Bücher der 1970er Jahre widerspreche der Text formal den experimentellen Tendenzen und sei frei von Ideologien. „­Sich auf das Einzelschicksal einer einfachen Frau im Krieg zu konzentrieren, war total gegen den Trend.“

La Storia – Vom Skandal zum Klassiker

Kulturdoku

Mittwoch, 16.10.
— 21.55 Uhr
bis 13.1.25 in der
Mediathek

 

In der Literaturszene löste der Roman Debatten aus und wurde in zahlreichen Feuilletons und Literatursendungen kontrovers diskutiert. ­Elsa ­Morante jedoch, die sich als Autorin und Ehefrau ­Moravias bereits fest in der literarischen Elite etabliert hatte, beeindruckte das nicht. Mit ihrer Protagonistin Ida, einer Lehrerin, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen Verzagtheit und Überlebenswillen schwankt, setzte die Schriftstellerin den Fokus klar auf das ungeschönte Schicksal der einfachen Menschen. Als junge Frau hatte ­Morante die Schrecken des Krieges selbst erlebt: Wegen ihres bekannten jüdischen Mannes musste sie sich neun Monate lang in einem Schweinestall im Exil verstecken. „Diese Erlebnisse spielen für den Roman sicherlich auch eine Rolle“, sagt ­Fratocchi.

Dass Morante mit „La Storia“ 30 Jahre nach den geschilderten Ereignissen auf Kritik stoßen könnte, schien sie nicht zu stören. Charakterlich galt sie als verschlossen und schwer zugänglich; Familienangehörige beschrieben ­Morante sogar als exzentrisch. „Sie hatte eine defensive, etwas komplizierte Persönlichkeit und hat sich oft isoliert gefühlt“, sagt ­Fratocchi. „Gleichzeitig zeigt sie in ihren Büchern sehr viel Liebe für die Welt.“ Doch obwohl sie mit ihrem Bestseller „La ­Storia“ und als Autorin viel Gegenwind bekam, wurde der Roman ein absoluter Verkaufsschlager. Innerhalb der ersten Monate nach der Veröffentlichung verkaufte sich das Buch mehr als eine Million Mal – ein Erfolg, der ­Morante internationale Anerkennung einbrachte. „Der Roman war so populär, weil er für viele Menschen zugänglich war“, betont ­Fratocchi. ­Morante habe für alle und nicht nur für die literarische Elite schreiben wollen und daher eine leicht verständliche Sprache gewählt. Ihr Mitgefühl gegenüber denjenigen, die keinen Zugang zu Bildung hatten, wird mit der Widmung deutlich: „Dem Analphabeten gewidmet, der dieses Buch nicht lesen kann“, schrieb Morante. Gleichzeitig sei „La ­Storia“ ein Roman gewesen, über den man aus mehreren Gründen sprach: Wegen der Protagonistin Ida, die laut ­Fratocchi „überhaupt nicht emanzipiert ist“, gab es vor allem in feministischen Kreisen einen Aufschrei. Wertfrei, bisweilen gar freundlich wird zudem ein deutscher Nazi-Soldat beschrieben, der Ida vergewaltigt und dabei schwängert. Ida verurteilt ihn nicht dafür, hat fast schon mütterliche Gefühle für ihren Peiniger. Sie und ihr Umgang damit im Buch sorgten für große Empörung.

Ihre letzten Lebensjahre verbrachte ­Morante fernab der Öffentlichkeit. Sie kämpfte mit Depressionen und unternahm nach einem Unfall mit schweren gesundheitlichen Folgen 1983 einen Suizidversuch. Nach zwei Jahren im Krankenhaus starb sie im Alter von 73 Jahren.

Kunst ist das Gegenteil von Vernichtung

Elsa Morante (1912–1985), Schriftstellerin