Ein Mann im blauen Mantel läuft die Straße entlang, er könnte ein freischaffender Kreativer sein, womöglich ein junger Vater aus Prenzlauer Berg. Tatsächlich handelt es sich bei Jakob Fabian, genannt Fabian, um eine Figur von Erich Kästner. Um jenen etwas schwermütigen Ironiker, der im Berlin der frühen 1930er Jahre in den Abgrund der drohenden Weltkatastrophe blickt, sich kompliziert verliebt und vom Schicksal immer wieder über den Tisch gezogen wird. Das Schöne ist: Man sieht ihm nicht gleich an, in welcher Zeit er lebt. Dominik Graf hat Kästners Romanklassiker mit Tom Schilling in der Hauptrolle verfilmt, und sein „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ (2021) hebt sich auf angenehme Weise von vielen historisch angehauchten Kinofilmen ab. In denen der Lippenstift immer ein bisschen zu erdbeerrot leuchtet und vieles wie ausstaffiert aussieht (und es ja auch ist). Stattdessen reduziert Graf auf das Alltägliche; er streut auch immer wieder ein paar Brocken Gegenwart ein: einen Punksong hier, eine moderne Formulierung dort. Eindeutig ist wenig in seinem Bild jener Epoche, die den Wahnsinn des Totalitären schon im Augenwinkel sieht. Er habe „eine Ahnung von Chaos“ transportieren wollen, erklärt Graf die Atmosphäre im Gespräch mit dem ARTE Magazin. „Die Liebe als warmes Licht in einem Nebel, der immer dichter wird.“
Worum geht es also? Man könnte sagen: die Ansichten eines Zaungastes. Fabian, promovierter Germanist, hegt schriftstellerische Ambitionen, dichtet aber vor allem Werbung für Zigaretten. Seine Umwelt observiert er mit einer Mischung aus Befremden und Amüsement. Die Beobachtung schließt ihn selbst mit ein: Eine verkorkste Affäre wird da etwa zum Experiment am eigenen Empfinden. „Er betrieb die gemischten Gefühle seit langem aus Liebhaberei“, heißt es im Roman. „Wer sie untersuchen wollte, musste sie haben.“
Die Rolle des Fabian scheint wie gemacht für Tom Schilling, der in „Oh Boy“ (2012) einen ähnlichen Typus des zerzausten Sinnsuchers etabliert hat. Später verkörperte er in „Werk ohne Autor“ (2019) einen Maler, dessen Leben an das des Künstlers Gerhard Richter angelehnt sein sollte. Er gibt Fabian als drahtigen Moralisten, allerdings als einen, der seine größte Energie in den Spaß steckt. Wenn es dunkel wird, ziehen er und sein reicher Freund Labude (Albrecht Schuch) durch Kellerkneipen und windige Etablissements. Die Liebe bricht schließlich in Gestalt von Cornelia (Saskia Rosendahl) über ihn hinein. Sie ist Juristin, könnte sich aber auch eine Karriere in der Schauspielerei vorstellen. Dafür mit einem mächtigen Produzenten anbandeln? Nicht ausgeschlossen. Die Singlefrau, die Aufstiegsambition: Modernität und auch eine gewisse Abgebrühtheit sind bei Kästner, vielen eher als Autor von Kinderbüchern bekannt, schon angelegt. Sogar derart, dass das Buch seinem Verlag zu gewagt vorkam. 1931 erschien es in einer abgespeckten Version, als anrüchig bewertete Passagen hatte man gestrichen. Erst 2013 kam die ursprüngliche Fassung heraus, versehen mit dem Originaltitel: „Der Gang vor die Hunde“. Er passt gut zur Geschichte, die Schönheit, Melancholie und gesellschaftlichen Sinkflug miteinander verquirlt. Im Film, den ARTE im April zeigt, trägt das Berlin jener Ära auch die Züge des Molochs, als das man es immer wieder gezeigt hat. Da sind die riesigen Eisklötze, von denen sich die Nachtschwärmer die Brocken für ihre Drinks abhacken. Die dürren Morphinisten und die jovialen Fabrikanten. Die Regeln sind schroff: Alles steht zum Verkauf, und wer etwas will, muss dafür auch blechen.
„DIE SCHÖNSTEN SCHLUSSMACH-DIALOGE“
Wieso blickt man gerade so häufig auf diese Zeit zurück? Weil sie hemmungsloses Vergnügen mit bitterer Tragweite verbindet? Immer wieder sind Parallelen zwischen der Weimarer Zeit und heute gezogen worden, der politischen Extreme, der allgemeinen Desasterstimmung wegen. Der Vergleich ist überspitzt, doch das Gefühl, die Welt sei aus den Fugen geraten, klingt vertraut. „Das erleben wir gerade auch“, sagt Regisseur Dominik Graf. „Aber unsere Zeit kann sich mit den teils entfesselten 1920ern nicht messen. Sie ist unkreativer, verklemmter, zwangsneurotischer.“ Er habe keinen belehrenden Film drehen wollen, kein Panorama, das sich mit der Weisheit der Nachgeborenen ins Zeug wirft. „Die Jetzt-Zeit geriert sich oft als lautstark überlegen gegenüber den stattgefundenen deutschen Vergangenheiten. Als wüssten wir irgendetwas besser als die Leute damals. Das glaube ich nicht.“ Statt zu moralisieren, findet er, solle man sich lieber die Mühe machen, die Wirklichkeit zu lesen.
Womöglich liegt der Trick darin: Vergangenes nicht museal vorzuführen, sondern es mit künstlerischen Kniffen aufzubrechen. Christian Petzold hat es so gemacht, als er seine Figuren im Kinofilm „Transit“ (2018) die Texte von Anna Seghers aus dem Jahr 1948 in den Mund legte, sie ansonsten aber in die technologisch aufgerüstete Welt des 21. Jahrhunderts verpflanzte. Auch „Fabian“ ist durchlässig, wenn Menschen wie Großstädter von heute sprechen oder über Pflaster mit Stolpersteinen laufen. Die Ausstattung ist reduziert genug, um fast universell zu wirken: Nicht das Glamouröse steht im Mittelpunkt, sondern das Begreifliche. Das gilt im Übrigen auch für die literarische Vorlage, die in ihrer cleveren Ironie kaum gealtert ist. „Kästner schreibt die schönsten Kennenlern- und Schlussmach-Dialoge“, sagt Dominik Graf. „Sie sind wie ein Lexikon für verzweifelt Liebende.“ Und das ist doch wirklich ein zeitloses Thema.