Ein Klavier am Strand, vor wilden Wellen. Das Bild hat nichts von seiner Wucht verloren. Es ist ein ikonisches Bild im Œuvre von Jane Campion, jene Szene aus „Das Piano“ (1993), in der die Viktorianerin Ada (Holly Hunter) von Maori an Land getragen wird, sich weigert, die Reise durch den neuseeländischen Regenwald ohne ihr Klavier fortzusetzen, und die Nacht mit ihrer Tochter am Strand verbringt. Im Zeltgestänge ihres Reifrocks. Eine zierliche, den Naturgewalten und den Männern ausgesetzte Frau weiß sich zu behaupten – wenn auch nicht unversehrt.
Das Universum von Campions frühen Filmen ist von lauter Frauen bevölkert, die anders sind, als sie sein sollen. Von dicken Kindern, verstockten Teenies, verstörten Einzelgängerinnen. „Sweetie“ (Geneviève Lemon), das bebrillte Mädchen, das sich für einen Star hält; die Schriftstellerin Janet Frame (Kerry Fox), die als schizophren gilt und sich mit ihrer Sprache rettet („Ein Engel an meiner Tafel“); die stumme Ada, die ihre Stimme findet und die Liebe dazu; Isabel Archer (Nicole Kidman) in der Henry-James-Adaption „Portrait of a Lady“, die den gesellschaftlichen Konventionen trotzt und sich betrogen sieht – zusammen betrachtet eine Ahnenreihe der Weiblichkeit.
Als die gebürtige Neuseeländerin 1993 in Cannes die Goldene Palme für „Das Piano“ erhält, ist sie die erste Frau, die mit der Auszeichnung geehrt wird – und sie bleibt lange die einzige. Damals ist von einem Wunder die Rede, denn eigentlich ist es ihr zweiter Cannes-Sieg, die erste Goldene Palme erhielt sie 1986 für ihren Kurzfilm „Peel“. Den Preis für „Das Piano“ nimmt sie schwanger entgegen. Das Kind stirbt nach der Geburt; Triumph und Trauer fallen in eins – fast so, als sei Campion eine ihrer Kinoheldinnen. Hollywood produziert kollektive Mythen; Jane Campion hat einen Mythos vom Ich entwickelt, mit all dem Schmerz, dem Verratensein, der Einsamkeit und der Freiheit, die das Ich-Sagen mit sich bringt.
„Hi, I’m Jane“, sagt sie so herzlich wie salopp zur Begrüßung, als wir uns das erste Mal treffen, vor gut 30 Jahren. Sie freut sich über die unrasierten Beine der Journalistin, zeigt fröhlich ihre eigenen, ebenfalls unrasiert, spricht über die Gefahren von Weiblichkeitsidealen. Als wir uns ein paar Jahre später wieder treffen, unweit von Sydney, geht sie lieber spazieren, als das Gespräch im Teehaus zu führen. Auf dem Küstenpfad hoch über dem Pazifik weist sie auf ihre Lieblingsbäume hin und auf die Haifischnetze in der Bucht, auf die Farben, die fast so überwältigend sind wie in Neuseeland. Ein Licht vom „Ende der Welt“, sagt Campion selbst. Und dass die Natur nicht lügt, hier ganz besonders nicht.
Die 1954 in Wellington geborene Regisseurin eine Feministin zu nennen, greift zu kurz. Die Tochter einer Schauspielerin und eines Theaterregisseurs studierte Anthropologie, um alsbald mit der Kamera das Ich-Werden, das Frausein zu erforschen – Pubertät, Intimität und Selbstbehauptung. Anfangs rückwärts in die Geschichte projiziert, von den Mädchen in Schuluniform im Kurzfilm „A Girl’s Own Story“ über die 1950er Jahre bis zurück ins 19. Jahrhundert. Und später in Genrefilmen wie „In the Cut“ (2003), der Mystery-Miniserie „Top of the Lake“ (2013) mit einer traumatisierten Polizistin oder zuletzt im Western-Psychodrama „The Power of the Dog“ (2021).
Ein Primat der Gegenwart
Campion dreht gern mit Hollywoodstars, neben Nicole Kidman etwa mit Kate Winslet, Meg Ryan und Elisabeth Moss. Sie will immer wissen, wie alles anfängt und was alles schiefgeht, in Biografien wie in der Geschichte der modernen Gesellschaft. Gleichzeitig gehorcht ihr Kino keiner ordentlichen Chronologie, sondern entwickelt seine Kraft aus dem Hier und Jetzt. Ein Primat der Gegenwart, das Rückblenden und Träume einschließt. Und sie nimmt sich Freiheiten, kippt Perspektiven, entfesselt die Kamera, baut Zeichentrickfilme oder Experimentalvideos in ihre Kostümfilme ein. So setzt sie Momente der Selbstermächtigung ins Bild, lange bevor der Begriff in Mode kommt. Um dann mitten in der MeToo-Debatte ihren ersten Männerfilm zu drehen. Während endlich viele Frauen im Kino von Frauen erzählen und Preise dafür gewinnen, eignet die Pionierin aus Neuseeland sich in „The Power of the Dog“ den Westernmythos an, erkundet Virilität, unterdrückte Homosexualität und fluide Identitäten. Wird ja auch Zeit, möchte man denken, dass eine Kinomeisterin sich der männlichen Heldenbilder annimmt. Im März 2022 gewann sie mit dem Film den Regie-Oscar – als dritte Frau in der mehr als 90-jährigen Geschichte der Academy Awards. Seit Jane Campion Filme dreht, wissen wir mehr über die Macht der Blicke. Und da-rüber, wie man sie bricht.