Die Leere hat in Japan höchste Bedeutung und gilt als dem Geist nahestehendes Element. Ausdruck findet sie in der Geisha.
Langsamen, bedachten Schrittes flanieren die Geishas durch Kyoto, die ehemalige Hauptstadt Japans. Sie sind Hüterinnen der japanischen Kultur und Ausdruck des Elements der Leere. Die Japanologin Verena Blechinger-Talcott ist Professorin an der Freien Universität Berlin und erklärt, was das bedeutet.
ARTE MAGAZIN Wie beschreiben Sie das Element der Leere und des Geistes?
Blechinger-Talcott Dieses Element ist in der japanischen Kultur tief verwurzelt, es steht für alles jenseits der Alltagserfahrungen. Mit Leere beschreiben die Japaner den Zustand, wenn man sich zurückzieht, nicht alles sagt, Dinge offen lässt. Im Zen-Buddhismus etwa spielt Meditation eine große Rolle; das kommt eigentlich aus der Krieger-Kultur. Die Samurai haben sich viel mit dem Geist beschäftigt, um über ihren Status als Krieger nachzudenken. Man gibt in der Schlacht nur alles, wenn man weiß, dass das Leben jeden Moment enden kann.
ARTE MAGAZIN Warum ist die Leere in Japan wichtiger als in anderen Kulturen?
Blechinger-Talcott Weil diese Leere keinem Selbstzweck dient. Es geht darum, über Kontemplation zu wachsen. Laut der chinesischen Lehre des Konfuzianismus – in Japan weit verbreitet – ist der Mensch immer in verschiedene Systeme von Verpflichtungen eingebunden. Das Streben nach Bildung und Verbesserung des eigenen Selbst ist hier ganz zentral. Das ist auch ein Grund, warum Japan eine sehr bildungsaffine Gesellschaft ist.
ARTE MAGAZIN Was haben die weiß geschminkten Geishas mit dem Element zu tun?
Blechinger-Talcott Geishas beherrschen die Kunst der Zurückgenommenheit perfekt. Sie sind gepflegte Gesellschaftsdamen. Frauen, deren Beruf es ist, eine angenehme und kultivierte Stimmung zu schaffen. Sie sind Unterhalterinnen auf sehr hohem, kulturellem Niveau. Die Vorstellung, die wir im Westen haben, dass Geishas Prostituierte sind, stimmt nicht.
ARTE MAGAZIN Was sind die konkreten Aufgaben einer Geisha?
Blechinger-Talcott Geishas erlernen die Feinheiten der traditionellen Kultur Japans. Sie sind gebildet und müssen die Unterhaltung am Tisch so führen, dass die Gäste sich entspannen, aber gleichsam das Gefühl haben, einem kultivierten Erlebnis beizuwohnen. Ein Abend mit einer Geisha ist exklusiv und teuer. Wenn Unternehmen ihren Kunden ein solches Erlebnis bescheren, ist das ein Zeichen höchster Wertschätzung.
ARTE MAGAZIN Sollte es in jedem Land solche Hüter der Kultur geben?
Blechinger-Talcott Ich denke, die gibt es überall, wo es Brauchtum gibt. Das Spannende in Japan ist, dass Künstler und Kunsthandwerker zum lebenden Kulturschatz zählen können.
LUFT
Ob beim Flügelschlag des Japankranichs oder einer Windböe in den Bergen – Luft ist oft spürbar, aber selten greifbar.
Lange Stelzenbeine staksen umher, schwarz-weiße Flügel flattern im Schnee – die Japankraniche, Mandschurenkraniche genannt, verkörpern wie kein zweites Tier das japanische Element der „Luft“. Ihm werden im Inselstaat übernatürliche Eigenschaften nachgesagt. Luft gilt als unberechenbar, mal als dem Menschen wohlgesinnt, mal als tückisch und gefährlich. Jedoch immer ungreifbar und dadurch mystisch. Ein leichter Wind kann eben innerhalb kurzer Zeit zu einem todbringenden heranwachsen. Die anmutigen und eleganten Bewegungen der Kraniche – immer wieder unterbrochen durch Anflüge eines wilden, gefiederten Tanzes – verkörpern diese Ambivalenz aus Sicht der Japaner. Männchen und Weibchen der Kraniche sehen identisch aus, sie unterscheiden sich nur durch ihre Rufe bei der Paarung. Einmal einander gefunden, bleiben die Vögel ein Leben lang zusammen, um gemeinsam von den Winden mit viel Leichtigkeit über die Inseln getragen zu werden. In Japan galten sie lange als ausgestorben – inzwischen werden sie von fürsorglichen Bewunderern ihrer Anmut umsorgt. Ohne die Menschen, die auf die zarten Vögel achtgeben, kämen sie nicht durch den Winter.
FEUER
Kraft- und Machtsymbol – das Talent, das Feuer zu beherrschen, zeigt sich in der Schmiedekunst Japans.
Für Japaner war die Bändigung des Feuers schon immer überlebensnotwendig – denn die Inselbewohner reiten viele Drachen. Neben dem Fuji, dem rund 3.800 Meter hohen Wahrzeichen Japans, zählt die Inselgruppe über 100 aktive Vulkane. Während die meisten Japaner versuchen, diese fragile Koexistenz zumindest mit einigen Kilometern Abstand zu gestalten, gibt es auch Menschen, die die Nähe zu den Feuer speienden Bergen suchen. „Ich habe früher in Tokio gelebt, aber da leben so viele Menschen. Ich hatte das Gefühl, als wären die Menschen allmächtig“, erzählt die Kinderbuch-autorin Kotoe Sameshima im ARTE-Dokumentarfilm. „Dann habe ich mir den Sakurajima angeschaut und gespürt, dass die Menschen Teil der Natur sind.“ In der japanischen Philosophie der fünf Elemente steht das Feuer für Kraft und Macht. Miyamoto Musashi, japanischer Krieger im 17. Jahrhundert, bezeichnete es einst als „bebendes Herz der Schlacht“. Das in der Glut mit ritusartiger Präzision geschmiedete Langschwert Katana repräsentiert dieses Beben. Heute fertigen es die noch verbliebenen traditionellen Schmieden Japans nur noch selten als tödliche Waffe, sondern vielmehr als prestigebringendes Kunstobjekt.
WASSER
Das omnipräsente Element hat die Lebens- und Denkweise der Inselbewohner im Pazifik geprägt.
Willkürlich, kraftvoll und unaufhörlich treffen die Wellen auf die Küsten des vom Pazifik eingeschlossenen Inselstaats. Als ständig präsente Immanenz attestieren viele Japaner – allen voran die Angehörigen der Glaubensrichtung Shintō – dem Element des Wassers etwas Göttliches. Dazu gehört es, ihm respektvoll und achtsam gegenüberzutreten, ob als Rinnsaal oder Ozean. So pflanzt Masanori Yanagwa, Austernzüchter und ein Protagonist des ARTE-Films, jedes Jahr Bäume, um das Gleichgewicht zu wahren: „Wir reden von Austernzucht, aber wir füttern die Muscheln nicht. Sie ernähren sich allein. Darum müssen wir die Natur achten.“ Für viele Japaner ist das Meer auch heute noch die Lebensgrundlage. „Ich bin Japaner, ich bin Asiat, darum habe ich eine große Affinität zum Freitauchen. Es hat etwas Philosophisches“, sagt etwa der professionelle Apnoetaucher Ryuzo Shinomiya. Bei dieser Form des Tauchens geht man ohne besondere Ausrüstung unter Wasser –
alles hängt von einem einzigen Atemzug ab, der einen so lange wie möglich unter Wasser hält. Shinomiya erkundet so gerne die Ruinen vor der japanischen Küste. Wie sein Vorbild es immer tat, der Taucher Jacques Mayol – für ihn „eine Art Gott“.
ERDE
In Japan pflegt man ein symbiotisches und pragmatisches Verhältnis zur Erde – ein Geben und Nehmen.
Eng verbunden mit dem Element des Feuers ist das Element der Erde, denn die vielen Vulkane in Japan prägen auch die Bodenbeschaffenheit der Inseln. Riesige Reisfelder bestimmen das Bild des Landes mindestens so sehr wie seine Tempel und Vulkane. Zusammen mit Tee bildet der Reis den Sockel der asiatischen Landwirtschaft und steht dabei für viel mehr als nur für die Versorgung mit Nahrungsmitteln. „Mir geht es darum, wie wir gemeinsam mit der Natur leben können“, sagt der Teebauer Sunichi Matsuo im ARTE-Dokumentarfilm „Japan – Land der fünf Elemente“. Menschen wie er sorgen für einen nachhaltigen Umgang mit den fruchtbaren Böden der Inselgruppe. „Im Vergleich zu den Bäumen ist das Leben der Menschen keine große Sache, es ist so kurz. Ich möchte, dass die Menschen sich als Wesen begreifen, die auf die Erde achtgeben müssen.“
Eine Denkart, die auch das alljährlich im ganzen Land gefeierte Kirschblütenfest beeinflusst. Mit ihrer geringen Lebensdauer und ihrer zerbrechlichen Grazie steht die Kirschblüte in der japanischen Kultur sinnbildlich für die Vergänglichkeit des Lebens – eine Schönheit, die geschützt und geschätzt werden muss.